Lateinamerika
Kriege und bewaffnete Konflikte in Lateinamerika seit 1945
Entwicklungstrends seit 1945
Während nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis 2000, mithin in einem Zeitraum von 56 Jahren, in Nordamerika, genauer. auf den Territorien der USA und Kanadas, kein Krieg stattfand und in Europa nur 7 % aller 218 Kriege geführt wurden, entfiel die Masse aller Kriege, also 93 %, auf die Dritte Welt. Allerdings gilt es hier einen bemerkenswerten Unterschied zu beachten: Fast vier Fünftel (79 %) aller Kriege entfielen auf Afrika, Asien und den sog. Nahen und Mittleren Orient, und zwar je zu etwa gleichen Anteilen (27 %, 27 % und 25 %). Hingegen hat Lateinamerika einschließlich Karibik mit 30 Fällen nur 14 % der Kriege aufzuweisen, also noch doppelt so viele wie Europa, aber nur halb so viele wie jede der genannten anderen Regionen der Dritten Welt. Die Rangfolge wird noch plastischer, wenn man sich pro Region ansieht, wieviel Kriege im Durchschnitt der 56 Jahre in jeder Region begonnen wurden: je in Asien und Afrika pro Jahr 1,05 Kriege, im Vorderen / Mittleren Osten 0,98, in Lateinamerika 0,54 und in Europa 0,27.
Gegenwärtig sind auch nur noch zwei lateinamerikanische Kriege im Gange: seit1964 der Krieg der FARC und seit 1965 der ELN in Kolumbien, die somit beide schon 36 bzw. 35 Jahre andauern. Die geringere Kriegshäufigkeit liegt nicht daran, daß Lateinamerika in weniger Staaten aufgeteilt ist als die anderen Regionen, wie man zunächst meinen könnte. Die Tatsache, daß die Dominanz der USA über ihren südlichen "Vorgarten" oder "Hinterhof" (je nach Betrachtungsweise), die sie schon mit der Monroe-Doktrin von 1923 rechtfertigten, eine starke Kontrolle über die Region herbeiführte, hat kaum befriedend, sondern eher gegenläufig gewirkt, wenn man an die sozialen, demokratieorientierten Revolutions- bzw. Modernisierungsbewegungen denkt und an die dagegen gesetzten "antikommunistischen" Einmischungen bzw. Unterstützungen herrschender Oligarchien seitens der USA.
Vor einer Erklärung der relativ geringeren Kriegsanfälligkeit Lateinamerikas müssen zunächst weitere Daten betrachtet werden. Von den 30 Kriegen sind nur sechs zwischenstaatliche gewesen: die gescheiterte Schweinebucht-Invasion gegen das castristische Kuba 1961; der nur eineinhalb Tage dauernde, aber Tausende von Toten fordernde sog. Fußballkrieg zwischen El Salvador und Honduras 1969, dessen Ursachen jedoch in den inneren Spannungen beider Länder zu suchen sind; die Grenzkriege zwischen Peru und Ecuador von 1981 und 1995; der Falkland- bzw. Malvinas-Krieg zwischen Argentinien und Großbritannien 1982; die Invasion der USA zusammen mit anderen karibischen Staaten in Grenada 1983. Alle diese Kriege dauerten nur kurze Zeit, nicht einmal ein Jahr. Insoweit entspricht diese Tatsache dem weltweiten Kriegsgeschehen und ist keine lateinamerikanische Besonderheit: zwischenstaatliche Kriege sind selten geworden, und sie dauern nur kurze Zeit, was zusammenhängt mit dem friedenssichernden Einfluß der UNO bzw. ihres Sicherheitsrates mit den fünf ständigen Großmächten, mit den festgezurrten Staatsgrenzen und deren hoher völkerrechtlichen Legitimität sowie angesichts klarer Fronten und Regierungsverantwortlichkeiten mit der prozedural erleichterten Kriegsbeendigung. Das vor allem in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts sich stellende Problem sind die innergesellschaftlichen Kriege, so auch in Lateinamerika. Im Unterschied zur übrigen Welt stehen hier aber die Antiregime-Kriege fast ausnahmslos im Vordergrund. In der übrigen Welt, besonders der Dritten Welt haben Sezessions-, Separations-, Autonomie-Kriege eine große Bedeutung erlangt, weil ethnopolitisierte nationale Minderheiten aus einem Staatsverband ausscheren wollen, in dem sie sich unterdrückt und benachteiligt sehen (oder in den sie aufgrund kolonialistischer Herrschaft zuvor hineingezwungen worden waren). Nicht so in Lateinamerika! Hier kann nur der sog. Dschungelkrieg in Surinam (1986-89) dem Typ des Sezessions- bzw. Autonomie-Kriegs zugerechnet werden. Alle anderen inneren Kriege in Lateinamerika zielten seitens der Angreifer auf den Sturz des herrschenden Regimes und der sie stützenden Oligarchie, auf die revolutionäre Veränderung des soziopolitischen Systems oder auf die Verhinderung bzw. Beseitigung einer erfolgreichen Revolutions- bzw. Reformbewegung.
Auf die Beilegung innerer Kriege sind die Potentiale und Instrumente der Dritte-Welt-Staaten und vor allem die völkerrechtlichen Einflußmöglichkeiten noch kaum zugeschnitten. Infolge dessen sind die inneren Kriege normalerweise sehr hartnäckig, dauern oft Jahrzehnte lang. Die 24 inneren Kriege in Lateinamerika dauerten insgesamt 213 Jahre, das sind im Durchschnitt fast neun Jahre pro Krieg. Kolumbien ist hier am heftigsten betroffen: zu den oben bereits erwähnten längsten Kriegen in Lateinamerika, denen der FARC und der ELN, kommen in Kolumbien noch hinzu die "Violencia" 1949-57 (9 Jahre) und der Krieg der M19-Bewegung 1974-90 (17 Jahre).Weitere sehr langwierige Kriege waren der Kampf des andinischen "Sendero Luminoso" in Peru (1980-97, 18 Jahre) und ebendort des MRTA (1987-94, 8 Jahre), ferner die zwei Bürgerkriege in Guatemala (1962-68, 7 Jahre, und 1980-96, 18 Jahre), der lange konterrevolutionäre Krieg der "Contras" in Nicaragua (1981-90, 10 Jahre), der ebenfalls zehnjährige Krieg in Argentinien (1968-77); der Bürgerkrieg in El Salvador (1981-92, 12 Jahre) und der Krieg in Bolivien (1946-52, 7 Jahre). Die restlichen zwölf inneren Kriege dauerten im Durchschnitt etwas mehr als zwei Jahre. Aus der letzteren Gruppe fielen nur zwei in die 80er und 90er Jahre (der Dschungel-Krieg in Surinam und der Chiapas-Krieg in Mexiko), die übrigen in die 50er bis 70er Jahre. Es waren bzw. sind vor allem die langwierigen Kriege in Zentralamerika, Kolumbien, Peru und Argentinien, die die Kriegsbelastung Lateinamerikas seit 1945 ausmachten. Wesentlich ist jedoch auch, daß sie bis auf die zwei noch laufenden kolumbianischen Kriege, zu deren Verlängerung wie vormals in Peru besonders die spezifische Kriegsökonomie (Drogen!) beiträgt, vor allem in den 90er Jahren zu Ende gingen. Hier besteht zwar eine zeitliche Parallelität, aber kein kausaler Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches. Überdies zeigt die Erfahrung, daß den Versuchen innenpolitischer Opposition und Interessengruppen, das bestehende Herrschaftssystem mittels Gewalt zu erobern, selten ein Erfolg beschieden ist. Die Leidenden sind allemal die unbeteiligten Zivilisten.
Allgemeine ursächliche Hintergründe
Die Kriegshäufigkeit in Lateinamerika hat sich also deutlich verringert und liegt dichter bei der europäischen als bei der der übrigen Dritten Welt. Zunächst liegt das daran, daß die Kolonialzeiten in Lateinamerika bald zweihundert Jahre zurück liegen. Zwar haben sie die sozialen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse nachhaltig geprägt, aber nicht so tiefgehend deformiert wie in weiten Teilen des afrikanisch-asiatischen Raums. Trotz nach wie vor starker Spannungen infolge sehr ungleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse, trotz des sozialen Elends als Folge entwurzelter Bauernfamilien, trotz der ausbeuterischen Herrschaft von Agrar- und Handelsoligarchien und Vermögenseliten sind die kapitalistische Durchformung, damit die gesellschaftliche Integration und die Nationalstaatsbildung den europäischen Verhältnissen näher gekommen, und die hochentwickelten europäischen Verhältnisse müssen hier als Maßstab genommen werden, weil es - struktur- und epochengeschichtlich gesehen - keinen anderen gibt. Beispielsweise ist bezeichnend, daß in den inneren Konflikten in Lateinamerika die sozialen Probleme im Vordergrund stehen und auch deutlich artikuliert werden; ethnopolitische oder gar rassistische Übertünchungen sozialer Probleme sind selten. Auch die Staatsbildung im Sinne der Herstellung eines legitimen staatlichen Gewaltmonopols ist relativ weit vorangekommen. Die zeitweise um sich greifende Entstaatlichung, Diffusion und Privatisierung von Gewalt ist deutlich reduziert worden. Die Übergriffe und Brutalitäten von Polizei, Nationalgarden oder Todesschwadronen, die immer noch an vielen Orten passieren, oder Vetternwirtschaft und Korruption stellen schwerwiegende politische Defekte dar, die es zu ächten und bekämpfen gilt, weil sie eine funktionsfähige bürgerliche Gesellschaft behindern. Andererseits zeigen die zunehmenden Demokratisierungsbedürfnisse und -fortschritte, daß der Zivilisationsprozeß in Lateinamerika merklich weiter entwickelt ist als in der übrigen Dritten Welt. Die Folge dessen ist die geringere und abnehmende Kriegsbelastung Lateinamerikas. Daß die meisten, längsten und in zwei Fällen immer noch andauernden Kriege des Kontinents gerade in Kolumbien stattfinden, ist bezeichnend; denn hier hat sich die in jeder sich kapitalisierenden Entwicklung unvermeidliche Auflösung traditionaler Strukturen in den Kaffeeanbaugebieten mit parteiklientilistischer Massenmobilisierung verwoben, so daß bisher trotz äußerlich-formaler Demokratie und mehrfacher Befriedungsbemühungen von Präsidenten keine gesellschaftliche Integration und kein durchsetzungsfähiges staatliches Gewaltmonopol hat entwickeln können. Sonst aber überwiegen in Lateinamerika die Tendenzen zu friedlichen Konfliktstrategien, also die Chancen zivilisatorischer Gesellschaftsentwicklung.
Klaus-Jürgen Gantzel, Stand 1997