Europa
Kriege und bewaffnete Konflikte in Europa seit 1945
Entwicklungstrends seit 1945
Für die Strukturierung des europäischen Kriegsgeschehens ist die Unterscheidung von West- und Osteuropa relevant. Ihre Plausibilität gewinnt diese Unterscheidung nicht nur aus strukturgeschichtlichen Differenzen, den unterschiedlichen, kapitalistischen und sozialistischen Entwicklungsverläufen west- und osteuropäischer Gesellschaften und der bipolaren Blockteilung Europas, die den überwiegenden Teil des Beobachtungszeitraumes bestimmt hat. Die Differenzierung in West- und Osteuropa bringt auch deutliche Unterschiede in der Entwicklung des Kriegsgeschehens zum Ausdruck.Von 1945 bis 1997 fanden in Europa nur 14 Kriege statt, von denen 8 auf Westeuropa und 6 auf Osteuropa entfielen.
Im Vergleich zu den anderen Weltregionen ist Europa damit der am wenigsten kriegsbetroffene Kontinent. In Europa entfällt der Hauptanteil der geführten Kriege zu etwa gleichen Teilen auf Antiregime-Kriege und Autonomie/Sezessions-Kriege. Insgesamt wurden mit Ausnahme des dritten Zypern-Krieges (1974) ausschließlich innerstaatliche Kriege geführt.
Statistisch auffällig ist eine Tendenz zur phasenverschobenen Entwicklung des Kriegsgeschehens in den beiden Kontinenthälften. In Westeuropa konzentrierte sich das Kriegsgeschehen auf die ersten zwei Drittel des Beobachtungszeitraumes. Zuletzt wurde 1974 auf Zypern ein Krieg begonnen. Bis 1979 wurden bis auf den Nordirlandkrieg alle Kriege beendet. Der Konflikt im spanischen Baskenland prozessierte seit 1979 unterhalb der Kriegsschwelle weiter. Dagegen eskalierten von den 6 osteuropäischen Kriegen 5 erst mit dem einsetzenden Systemwechsel Anfang der neunziger Jahre.
Ein Blick über das Jahr 1997 hinaus bestätigt diese Tendenz im west- und osteuropäischen Kriegsgeschehen. Seit dem 1997 eingeleiteten Friedensprozeß in Nordirland sind in Westeuropa keine Kriege mehr zu verzeichnen. Dagegen sind in Osteuropa seit 1997 im Kosovo und in Mazedonien zwei weitere Kriege eskaliert.
Regionale Verteilung
In relativ ausgewogener Verteilung entfallen für den Zeitraum 1945 bis 1997 8 Kriege auf Westeuropa und 6 Kriege auf Osteuropa. Auffällig ist die regionale Verteilung des Kriegsgeschehens in den beiden Hälften des Kontinents. Die westeuropäischen Kriege haben, sozioökonomisch gesehen, allesamt an den Peripherien stattgefunden. Dieser Befund gilt auch für die Kriege in Osteuropa. Mit Ausnahme des Ungarn-Aufstandes von 1956 sind alle osteuropäischen Kriege in der vergleichsweise gering entwickelten Region Südosteuropa eskaliert. Die zwei nach 1997 ausgebrochenen Kriege im Kosovo und in Mazedonien untermauern diese Tendenz.
Kriege in West-und Osteuropa im Überblick
Noch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges standen die zwei Griechischen Bürgerkriege (1944-1945 und 1946-1949), die in Westeuropa das Kriegsgeschehen nach dem Zweiten Weltkrieg einleiteten. Der erste Griechische Bürgerkrieg begann zwar im Dezember 1944, während der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell erst am 8. Mai beendet wurde. Jedoch standen sich hier bewaffnete Gruppen gegenüber, die bereits den ideologischen Lagern des bevorstehenden Ost-West-Konfliktes zuzuordnen sind. Ungefähr in den gleichen Zeitraum fällt der Spanische Bürgerkrieg (1945-1950). Allein drei Kriege eskalierten auf Zypern. Von 1955 bis 1959 wurde um die Unabhängigkeit der Insel von Großbritannien gekämpft, der zweite Krieg (1963-1964) führte zur Teilung der Insel in einen griechisch-zypriotischen Süden und einen türkisch-zypriotischen Norden, der Krieg von 1974 schließlich verfestigte diese Teilung nocheinmal. Von 1968 bis 1979 dauerte der Krieg im spanischen Baskenland, der seitdem unterhalb der Kriegsschwelle mit geringer Intensität weitergeht. Der Nordirlandkrieg (1969-1997) stellt die längste bewaffnete Auseinandersetzung dar.
Mit Ausnahme des Ungarn-Aufstandes von 1956 blieb Osteuropa bis 1989 kriegsfrei. Von 1989 bis 1995 eskalierten jedoch gleich 5 Kriege, die allesamt in Südosteuropa stattfanden. Nach den relativ kurzen kriegerischen Auseinandersetzungen in Rumänien (1989) und Moldavien (1992) haben die kriegerischen Staatsbildungsprozesse auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien das weitere Konfliktgeschehen bestimmt. Die Kriege in Slowenien (1991), Kroatien (1991-1995) und Bosnien (1992-1995) begannen zwar als Sezessionskriege, sie bekamen jedoch im weiteren Konfliktverlauf, mit der Anerkennung der Unabhängigkeit der jugoslawischen Nachfolgestaaten, auch eine zwischenstaatliche Dimension.
Stephan Hensell, Stand 1997