Vorderer und Mittlerer Orient
Kriege und bewaffnete Konflikte im Vorderen und Mittleren Orient
Entwicklungstrends seit 1945
Geographisch umfaßt die hier als Vorderer und Mittlerer Orient (VMO) bezeichnete Region die Arabische Halbinsel sowie die sich nördlich an diese anschließenden Gebiete des Fruchtbaren Halbmondes mit den Staaten Irak, Syrien, Libanon, Israel und Palästina, den Iran und Afghanistan im Osten, Ägypten im Westen und die Türkei im Norden. Desweiteren werden der Region seit dem Zerfall der UdSSR 1990/91 die Staaten im Kaukasus (Armenien, Aserbaidschan, Georgien) sowie die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan, Tadschikistan zugerechnet.
Die Gesamtzahl der im Zeitraum von 1945 bis 1997 im Vorderen und Mittleren Orient geführten Kriege beläuft sich auf 42, was einem Anteil von rund 20 Prozent am Weltkriegsgeschehen in diesem Zeitraum entspricht. Bei 29 der 42 in der Region des Vorderen und Mittleren Orients geführten Kriege handelt es sich um innerstaatliche Kriege, die - ebenso wie in allen anderen Regionen - auch im Vorderen und Mittleren Orient das Kriegsgeschehen seit 1945 dominieren. Im Vergleich zu den andern Regionen weist der Vordere und Mittlere Orient jedoch einen relativ hohen Anteil an zwischenstaatlichen Kriegen auf. Ein Phänomen, das sich anhand der spezifischen Rolle des Palästinakonflikts sowie der Verflechtung regionaler Konflikte mit internationalen Interessen erklären läßt.
Die Untergliederung des Kriegsgeschehens in regionale Konfliktschwerpunkte zeigt, daß sich 39 der 42 Kriege auf nur fünf Konfliktherde verteilen, von denen drei schon seit 1945 im Mittelpunkt des Kriegsgeschehens stehen: der konfliktive Bildungsprozeß des jemenitischen Staates, die Kriege in Kurdistan und der Palästinakonflikt. Mit dem Ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran (1980-1988), dem Überfall Iraks auf Kuwait im Jahr 1990 und dem darauffolgenden Zweiten Golfkrieg 1991 sowie dem Zerfall der UdSSR 1990/91 kamen zwei weitere Schwerpunkte im regionalen Kriegsgeschehen hinzu. Vor allem die staatliche Neuordnung des Südrandes der ehemaligen UdSSR hat entscheidenden Anteil an der Steigerung der regionalen Kriegshäufigkeit in den neunziger Jahren. Bezeichnend ist hierbei, daß die Kriege in Georgien, Tadschikistan, Nordossetien, Tschetschenien sowie um Nagornyj-Karabach sich alle im innerstaatlichen Rahmen abgespielt haben.
Ursachenkomplexe
Generell ist die Konfliktlage im Vorderen und Mittleren Orient durch zwei Ursachenkomplexe charakterisiert. Der erste ist ein eklatanter Legitimationsmangel staatlicher Herrschaft in der Region. Der größte Teil der Staaten weist eine tribal, ethnisch und religiös segmentierte Bevölkerung auf, deren politische Loyalitäten bisher keinen gemeinsamen Nenner im vorgegebenen territorialstaatlichen Rahmen fanden. Der Mangel an staatlicher Legitimität belastet den Versuch der nachholenden Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit im Vorderen und Mittleren Orient in besonderem Maße. Kriege, wie jene gegen die Kurden, der seit 1978 andauernde Krieg in Afghanistan, die beiden Bürgerkriege im Libanon 1958 und 1975, der islamistische Aufstand von Hamas 1982 gegen das Regime von Hafiz al-Assad in Syrien sowie die Kriege in Georgien und Tadschikistan machen deutlich, welches Konfliktpotential diesem politischen Legitimationsdefizit entwächst. Auch die in der gesamten Region erstarkten islamistischen Bewegungen, der sogenannte "islamische Fundamentalismus", sind einerseits Ausdruck des politischen Protests gegen eine als illegitim empfundene staatliche Herrschaft und andererseits Folge einer tiefen sozialen Krise, die als zweiter Ursachenkomplex des Konfliktgeschehens in der Region in zunehmendem Maße bestimmt. Diese mit Begriffen wie Landflucht, Verstädterung, soziale Marginalisierung und Zerstörung traditionaler kultureller Werte nur unzureichend umschriebene Krise ist zugleich Resultat und Erscheinungsbild der globalen Transformation traditionaler Gesellschaften, in deren Verlauf die bisherigen vergesellschaftenden Potenzen sukzessive entwertet werden, ohne daß moderne Vergesellschaftungsformen - wie Marktwirtschaft, Demokratie und Anstaltsstaat - sogleich an ihre Stelle treten.
Die regionalen Konfliktzentren
Konfliktherd "Jemen"
Das Gebiet des heutigen jemenitischen Einheitsstaates, der Jemenitischen Arabischen Republik, gehörte in der vorkolonialen Zeit zum Osmanischen Reich, welches das Land aber nur zeitweise einer indirekten Herrschaft unterwarf. Während das nördliche Bergland eine Stammeskonföderation unter dem zaiditischen Imam bildete, bestand die politische Struktur Adens und seines Hinterlandes bis zur britischen Kolonisierung aus relativ autonomen Stammesfürstentümern. Im Jahre 1839 besetzten britische Truppen Aden und das Protektorat wurde 1935 zur britischen Kronkolonie erklärt. Aus dem nordjemenitischen Imamat ging dann die Arabische Republik Nordjemen, aus den ehemaligen britischen Kolonialgebieten die sozialistische Volksrepublik Südjemen hervor.
Unterzieht man das Kriegsgeschehen im Jemen einer näheren Analyse, so wird deutlich, daß sich dieses um die territoriale und innere Konsolidierung des Staates dreht. Die territoriale Komponente des jemenitischen Konfliktherdes beinhaltet sowohl die Loslösung des Südjemen von der Kolonialmacht Großbritannien als auch Fragen der Grenzziehung mit Saudi Arabien. Nachhaltiger als die territoriale prägt allerdings die innerstaatliche Komponente das Kriegsgeschehen im Jemen. Hierbei verläuft der zentrale Konflikt zwischen dem traditionalen Herrschaftsanspruch der Stämme und des zaiditischen Imamats einerseits, und den Aspirationen moderner sozialer Akteure (Militärs, Bildungselite, Gewerkschafter) andererseits, die durch republikanische Ideen legitimiert damit begannen, die Herrschaft im jemenitischen Staat zu beanspruchen.
Kurdenfrage/Kurdenkriege
Auch im Kurdenkonflikt stehen Fragen der territorialen und innerstaatlichen Konsolidierung im Mittelpunkt des Kriegsgeschehens. Es konfligieren hier die Interessen der Staaten Türkei, Irak und Iran mit kurdischen Autonomieansprüchen. In allen drei Fällen wird somit die notwendige Integration im territorialstaatlichen Rahmen von etwaigen Sezessionsabsichten wesentlicher Bevölkerungsteile bedroht. Darüber hinaus dient die Unterstützung von kurdischen Rebellen im Nachbarstaat als Instrument des zwischenstaatlichen Konfliktaustrags. Als besonders konfliktträchtig erwies sich dabei diese Konfliktlage im Irak, wo sechs der bisher 8 Kurdenkriege stattfanden. Die Entwicklung in den Staaten Türkei, Irak und Iran macht deutlich, daß die Integration der kurdischen Bevölkerung in dem vorgegebenen modernen staatlichen Rahmen bisher gescheitert ist. Konfligierten anfangs die Verteilungskämpfe um die neu entstandenen staatlichen und ökonomischen Ressourcen entlang der traditionalen Stammesloyalitäten, wurden diese zusehends durch abstraktere, nun national artikulierte Loyalitätsbezüge ersetzt. Traditional legitimierte Verfügungsmöglichkeiten über Mittel physischer Gewalt sowie das hohe Maß an gewaltsamer staatlicher Repression führten schließlich zur kriegerischen Eskalation der Konflikte.
Arabisch- israelischer Konflikt um die Palästinafrage
Zentrale Schnittstelle regionaler und internationaler Konfliktlinien in der Region ist der arabisch- israelische Konflikt um die Palästinafrage. Seit der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 hat dieser Konflikt zu fünf direkten Kriegen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten geführt. Des weiteren stehen der Krieg in Jordanien (1970-71) zwischen palästinensischen Freischärlern und Truppen der jordanischen Armee sowie das Kriegsgeschehen im Libanon seit 1975 in engem Zusammenhang mit der Palästinafrage und dem israelisch-arabischen Antagonismus. Zumindest auf zwischenstaatlicher Ebene scheint diese lange Zeit das Kriegsgeschehen im Vorderen und Mittleren Orient dominierende Konfliktlinie mittlerweile an Brisanz verloren zu haben. Dies insbesondere aufgrund der diplomatischen und politischen Annäherung einiger arabischer Staaten an Israel sowie aufgrund internationalen Drucks auf die regionalen Akteure. Seit dem Ende des sogenannten Oktoberkrieges (vierter arabisch-israelischer Krieg) im Jahr 1973 hat es keinen direkten Krieg zwischen israelischen Truppen und regulären Streitkräften der arabischen Staaten mehr gegeben.
Golfregion
Ebenso wie der Palästinakonflikt sind die Konflikte in der Golfregion in hohem Maße in die Koordinaten der Konflikte im internationalen System eingebunden. Veränderungen im internationalen System sind somit auch ein wichtiger Bestandteil des Bedingungsgefüges, welches erklärt, warum die Golfregion mit Beginn der achtziger Jahre zu einem weiteren Schwerpunkt des Kriegsgeschehens im Nahen Osten wurde. Der Erste Golfkrieg (1980-1988) wie auch die darauffolgenden Kriege sind hierbei durchaus in einem inneren Zusammenhang zu sehen.
Ehemalige UdSSR
Bitter enttäuscht wurde die mit dem Ende der UdSSR verbundene Hoffnung, das Ende des Systemgegensatzes gewähre der Welt eine Friedensdividende. Mit insgesamt 5 Kriegen auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR entwickelte sich dort seit 1990 ein neuer Schwerpunkt des regionalen Kriegsgeschehens. Jenseits der wichtigen Rolle, welche russische Machtinteressen in den Konflikten der Nachfolgestaaten der UdSSR spielen, lassen sich in diesen Kriegen dieselben Konfliktmuster erkennen, die den regionalen Staatenbildungsprozeß bereits seit der Phase der Dekolonisation begleiten. Es sind zuerst Konflikte um die territoriale Konsolidierung der neuen Staaten, gefolgt von Konflikten um die innere Konsolidierung der erworbenen Staatlichkeit.
Jürgen Endres / Ulrike Borchardt, Stand 1997