Türkei
Kriege in Türkei seit 1945
Türkei (Kurden I, PKK, 1984 - 2001)
AKUF-Datenbanknr.: |
159 |
Kriegsdauer: |
15.08.1984 - 10/2001 |
Kriegstyp: |
B-2 |
Kriegsbeendigung |
durch militärischen Sieg Seite B |
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Kriegführende |
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Guerillaeinheiten der Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistan): bis 1986 die Hezen Rizgariya Kurdistan (HRK, Befreiungseinheiten Kurdistans); nach deren Auflösung seit 1986 die Artesa Rizgariya Gele Kurdistan (ARGK, Volksbefreiungsarmee Kurdistans)¹ |
Seite B |
Türkei |
KONFLIKTGEGENSTAND UND -ZIELE
Mit der Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 wurde in ihrer Verfassung die türkische Nation definiert als Heimat der ethnischen Türken. Damit wurden ca. 20 Prozent der heutigen Bevölkerung, die Kurden als indogermanische Ethnie, nicht nur als kulturell eigenständig ignoriert, sondern sie sollten durch Zwangsmaßnahmen assimiliert - "türkisiert" - werden. Hierzu zählten u.a. Deportationen und Umsiedlungen, die Unterdrückung kultureller Eigenständigkeit, wie etwa das Verbot der verschiedenen kurdischen Dialekte im öffentlichen, aber auch privaten Leben. Auch die Zerschlagung der traditionellen kurdischen Stammesstrukturen mit und nach der Niederschlagung der großen Kurdenaufstände der 1920er und 30er Jahre hatten die Assimilierung der kurdischen Bevölkerung zum Ziel. Insbesondere große Teile der kurdischen Oberschicht der Aghas (Dorf- und ehemalige Stammesoberhäupter), die seit Mitte des 19. Jh. zu Grundeigentümern der traditionell in Stammes- oder Gemeindeeigentum befindlichen landwirtschaftlichen Nutzflächen wurden nahmen die Vorteile der bürgerlichen Republik an und konnten damit in die türkische Gesellschaft integriert werden.
Die sozioökonomische Entwicklung im Westen der Türkei erlebte bis zu Beginn der 1970er Jahre einen leidlichen Aufschwung. Bis zu einem gewissen Grade entstanden moderne wirtschaftliche Strukturen mit einer prosperierenden Unternehmerschicht. Dennoch bestand wegen einer kaum entwickelten Investitionsgüterindustrie die Notwendigkeit von entsprechenden Importen. Deren Kreditfinanzierung führte zu einer Auslandsverschuldung, die das Land - verschärft durch die Ölkrise der 1970er Jahre - an den Tropf des Internationalen Währungsfond brachte. Die Folgen waren ein massives Ansteigen der Arbeitslosigkeit und Verarmung der Bevölkerung im ganzen Land. Der wirtschaftlich unterentwickelte und seit der Republikgründung vernachlässigte Südosten der Türkei mit seiner überwiegend kurdischen Bevölkerung hatte unter diesen Bedingungen besonders zu leiden.
Der wirtschaftliche Niedergang brachte die Türkei bis zum Ende der 1970er Jahre an den Rand eines Bürgerkrieges. Es entstanden eine Reihe von links- und rechtsextremen Gruppierungen und Organisationen, die sich gegenseitig und die staatlichen Institutionen bekämpften. Aus studentischen Zirkeln hervorgegangen, wurde 1978 die PKK von Abdullah Öcalan und einigen Mitstreitern gegründet. Mit den Worten der PKK war Kurdistan eine Kolonie der Türkei und des US-Imperialismus, die von der türkischen und kurdischen Bourgeoisie ausgebeutet und unterdrückt wurde. Durch eine Revolution wollte die PKK ein unabhängiges und sozialistisches Kurdistan schaffen, das zunächst die kurdischen Gebiete der Türkei und später auch die irakischen, iranischen und syrischen kurdischen Siedlungsgebiete zu einem Nationalstaat integrierte. Seit 1993 definierte die PKK ihre Ziele - den Realitäten des Kriegsverlaufes folgend - dahingehend, dass nunmehr kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung innerhalb des türkischen Staatsverbandes angestrebt wurden.
ERGEBNISSE DES KRIEGES
Kleinere PKK-Trupps führten schon 1983 Anschläge auf Ölpipelines aus und lieferten sich Scharmützel mit türkischen Soldaten. Ein Bündnis mit der irakischen Kurdischen Demokratischen Partei (KDP-Irak) ermöglichte der PKK den Aufbau von Ausbildungslagern und ihres Hauptquartiers, des sog. Lolan-Camps auf irakischem Gebiet. Mit Maschinengewehren und Raketen attackierten Einheiten der PKK am 15. August 1984 türkische Polizeistationen und Militäreinrichtungen in den Städten Eruh und Semdinli in den Provinzen Hakkari und Siirt. Diese ersten größeren Angriffe wurden zum Anlass genommen, die Gründung der HRK zu verkünden und markieren den Beginn des Krieges der PKK in der Türkei. Die ersten Jahre des Krieges waren für die PKK wenig erfolg- und sehr verlustreich. Sie litt an einem Mangel an fähigen Kämpfern, da ihre Rekrutierungsmethoden und der Terror gegen vermeintliche kurdische Kollaborateure, der auch vor Kindern und Frauen nicht haltmachte, statt Sympathie Angst und Schrecken unter der kurdischen Zivilbevölkerung verbreitete. Die Gründung der Eniya Rizgariya Neteva Kurdistan (ERNK, Nationale Befreiungsfront Kurdistans) sollte diesen Mangel durch andere Methoden der Rekrutierung, Training und militärische Angriffe beseitigen und hierzu Propagandaaktivitäten in der Bevölkerung durchführen. Auf türkischer Seite besann man sich Methoden indirekter Herrschaft aus osmanischer Zeit. Zur Etablierung des sog. Dorfschützersystems wurden kurdische Stämme bzw. deren Oberhäupter zur Bekämpfung der PKK angeworben. Sie wurden mit Waffen ausgerüstet und erhielten andere Privilegien, hierzu zählten u.a. auch Bauaufträge für staatliche Einrichtungen an die Aghas. Manchmal wurden Stämme auch schlicht zur Mitarbeit gezwungen. Dabei wurde darauf geachtet, möglichst weniger machtvolle Stämme aufzurüsten, um das Machtgleichgewicht im Südosten zu tarieren. Auf einem Parteikongress 1986 beschloß die PKK die HRK aufzulösen und an ihrer statt die ARGK als reinen Kampfverband zu gründen. Die Terroraktionen, die in Zukunft unterbleiben sollten, und die geringe Effektivität der HRK waren der Grund für diese Umstrukturierung. Die ERNK sollte sich zukünftig ausschließlich um Propaganda und Rekrutierung in Türkisch-Kurdistan und Europa kümmern. Tatsächlich gelang es der PKK sich bis zu Beginn der 1990er Jahre in der Bevölkerung zu verankern und viele kampfbereite Anhänger zu gewinnen. Dies war allerdings nicht nur auf die erfolgreiche Propagandatätigkeit zurückzuführen, sondern besonders auf die sich seit 1987 verschärfenden Repressalien gegen die Zivilbevölkerung durch die türkischen Sicherheitskräfte im Südosten des Landes. Dort wurde im gleichen Jahr über elf kurdische Provinzen das Notstandsrecht ausgerufen; unter den Bedingungen des Ausnahmezustands betrachteten die türkischen Sicherheitskräfte nahezu jeden Kurden als potentiellen Terroristen. Es wurden Anti-Terroreinheiten aufgestellt und die Sicherheitskräfte insgesamt massiv verstärkt, so dass bis 1990 ca. 200.000 Soldaten, 70.000 Polizeibeamte, 25.000 Dorfschützer und 1500 Anti-Terror-Spezialisten gegen 2500 PKK-Rebellen kämpften. Mit der Ausrufung des Ausnahmezustands begann die Zeit, in der die türkischen Kräfte mit brutalsten Maßnahmen die Bewohner kurdischer Dörfer deportierte, die der Unterstützung der PKK verdächtigt wurden, und ihre Häuser niederbrannte. Bis Ende 1997 wurden nach offiziellen türkischen Angaben 3100 Dörfer zerstört, wodurch mehr als 370.000 Menschen obdachlos wurden. Die gestiegene Akzeptanz und häufig auch Identifikation mit den nationalen Plänen der PKK durch die kurdische Bevölkerung bewirkte Anfang der 1990er Jahre, dass der Krieg eine neue Dimension bekam. Die Propagandaaktivitäten und die Brutalität der türkischen Sicherheitskräfte hatten spätestens zu diesem Zeitpunkt aus einer marxistischen Guerillarevolte eine Volksbewegung mit der Bereitschaft zum Widerstand hervorgebracht. Nicht nur die bewaffneten Verbände waren stärker und aktiver geworden, auch der Widerstand der zivilen Bevölkerung erreichte solche Ausmaße, dass von einer kurdischen Intifada (Serhildan) gesprochen wurde. Durch den Zustrom kampfbereiter Rebellen konnten die ARGK-Einheiten zunehmend als lokale Kampfgruppen agieren, d.h. dass die Kämpfer in der Nähe ihrer Heimatdörfer und -städte agierten und durch ihre Ortskenntnisse erhebliche Vorteile gegenüber den türkischen Sicherheitskräften besaßen. Die inadäquate Ausrüstung der türkischen Armee für die unwegsamen Gebirgsregionen ließen sie erhebliche Verluste erleiden, da ihre Mobilität von offenen Geländewagen abhing, die leicht in Hinterhalte gerieten. Das Jahr 1991 stand im Zeichen der im September 1990 von der türkischen Regierung verkündeten Suspendierung von Grundrechten (wie sie von der Europäischen Menschenrechtskommission definiert werden), die unter anderem die Pressefreiheit im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Serhildan einschränkte. Die PKK hatte ihre Unterstützer jetzt nicht mehr nur in den grenznahen Regionen, sondern auch in den westlichen Teilen Türkisch-Kurdistan, im Zentrum der Türkei. Die erfolgreichen Aktivitäten der PKK führten 1992 dazu, dass die türkische Politik erstmals auch offiziell zugestehen musste, dass "die kurdische Frage" sehr wohl in der Türkei besteht. Nachdem im Zuge der neuen Verfassung 1983 die kurdische Sprache verboten worden war, wurde nun der private Gebrauch nicht mehr unter Strafe gestellt. Für die PKK setzte allerdings 1992 eine Entwicklung ein, die ihre Operationsmöglichkeiten einschränkte. Durch den Ausbau ihrer Stützpunkte im Norden Iraks verschlechterten sich die Beziehungen zu den irakischen Kurdenorganisationen, die sich schließlich zu offenen Feindseligkeiten entwickelten. Nicht zuletzt aber auch dadurch, dass das türkische Militär die Umstände des Zweiten Golfkrieges nutzte und, während einer Großoffensive in den Irak Ende 1992, die Abhängigkeit der irakischen Kurden von Hilfslieferungen durch die Türkei dazu führte, dass sie mit den türkischen Truppen im Kampf gegen die PKK kooperierten. Im darauf folgenden Jahr bahnte sich zunächst eine hoffnungsvolle Entwicklung an. Die PKK verkündete 1993 für die Zeit des kurdischen Neujahrsfestes "Newroz" vom 21. März bis 15. April eine einseitige Waffenruhe. Zudem nahm sie erstmals Abstand von ihren Plänen zur Errichtung eines eigenständigen kurdischen Staates und bot der türkischen Regierung Verhandlungen an. Was die türkische Armee von diesem Angebot hielt, offenbarte sie während des Newroz-Festes, in dem sie mit schweren Übergriffen reagierte und zahlreiche Opfer unter den Zivilisten zu verantworten hatte. Dennoch verlängerte die PKK den Waffenstillstand nochmals und auch der damalige türkische Präsident Turgut Özal zeigte Kompromissbereitschaft, indem er die Aufhebung des Ausnahmezustands in den kurdischen Provinzen in Aussicht stellte. Doch die hoffnungsvolle Entwicklung endete abrupt mit Özals Tod im gleichen Jahr. Unter der neu ins Amt gewählten Regierung von Premierministern Ciller verhärteten sich die Fronten, und es scheint, als hätte die Politik seit diesem Zeitpunkt die kurdische Frage vollständig dem Militär überlassen. Während des Waffenstillstands hatte die Armee nach kurdischen Angaben weitere 22 Dörfer vernichtet. Die PKK ihrerseits machte deutlich, dass ihr Verhandlungsangebot keinesfalls ein Zeichen der Schwäche war (die Zahl ihrer Kämpfer dürfte zwischen 10.000 bis 20.000 gelegen haben) und antwortete mit Anschlägen in den westlichen Großstädten und Touristenzentren der Türkei. Im Rückblick erscheint 1994 als Wendepunkt des Krieges. Die türkische Armee konnte seit 1993 ihre Ausrüstung für den Kampf gegen die PKK-Rebellen entscheidend verbessern. Rüstungslieferungen aus Deutschland und Russland verhalfen der Armee zwar nicht mit Kampfpanzern und -bombern zu größerer Effektivität. Entscheidender für den Kampf in den unwegsamen Bergregionen waren die Lieferungen von annähernd 500 Radpanzern, Nachtsichtgeräten u.a.m. Die Deportation kurdischer Dorfbewohner und die Zerstörung ihrer Dörfer waren nochmals intensiviert worden, und die türkische Regierung schloss Abkommen mit dem Iran und Syrien über die Verhinderung von PKK-Überfällen von deren Territorien. An der Grenze zu Irak versuchten die türkischen Streitkräfte selbst zunächst mit Luftangriffen die Rückzugsgebiete der PKK-Rebellen zu vernichten. Die irakischen Kurden wurden dadurch immer wieder in Mitleidenschaft gezogen, da eine Differenzierung zwischen PKK-Rebellen und Peshmergas nicht möglich oder gewollt war. So kam es auch immer wieder zu innerkurdischen Kämpfen, um die PKK aus der autonomen Kurdenregion im Irak zu vertreiben. Hatte es bereits 1995 zwei mehrtägige Militärexpeditionen türkischer Landstreitkräfte in die UNO-Schutzzone für die Kurden im Irak gegeben, so sollte 1996 eine bis zu zwanzig Kilometer auf irakisches Gebiet reichende ständige Sicherheitszone entlang der fast 350 Kilometer langen Grenze eingerichtet werden. Nach Protesten aus mehreren arabischen Ländern und politischer Intervention wurde die Sicherheitszone als vorläufig deklariert. Innerhalb der Türkei konzentrierten sich die Kämpfe auf die alewitische Kurdenregion Dersim bzw. Tunceli und auf kurdische Stützpunkte am Ararat-Berg im äussersten Osten der Türkei. Auch 1997 führte die türkische Armee mehrere Großoffensiven in den selben Regionen wie im Vorjahr.
ANMERKUNGEN
[1] Die Guerillaeinheiten operieren als Hezen Rizgariya Kurdistan (HRK; Befreiungseinheiten Kurdistans). 1985 gründete die PKK die Eniya Rizgariya Netewa Kurdistan (ERNK; Nationale Befreiungsfront Kurdistans). Torsten Schwinghammer / Matthias Schmitt Türkei (Kurden)(Krieg)Auch im Berichtsjahr 2001 dauerten die Kämpfe in den traditionell kurdisch besiedelten Gebieten im Südosten der Türkei und im Nordirak weiter an. Um die Guerilla der Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistan), die sich mehrheitlich in den Nordirak zurückgezogen hat, effektiver bekämpfen zu können, bemühten sich sowohl der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit als auch das türkische Militär um eine Allianz mit dem Vorsitzenden der irakischen Patriotische Union Kurdistans (PUK), Jalal Talabani, dessen Partei zusammen mit der Kurdisch-Demokratischen Partei - Irak (KDP) unter dem Vorsitz Massoud Barzanis das Gebiet im Norden des Irak verwaltet, über dem seit 1991 eine Flugverbotszone besteht. Bei einem offiziellen Besuch in Ankara im Januar 2001 sicherte Talabani der Türkei seine Unterstützung im Kampf gegen die PKK-Einheiten im Nordirak zu. Auf einer Konferenz vom 8. Juni bis zum 12. Juli 2001 im Nordirak hat die Artesa Rizgariya Gele Kurdistan (ARGK, Volksbefreiungsarmee Kurdistan), die sich mittlerweile Heza Parastina Gele Kurd (HPG, Volksverteidigungsfront Kurdistan) nennt, ihre Absicht erklärt, den bewaffneten Kampf als Guerilla-Armee für die Ziele der PKK fortzusetzen. Meldungen, nach denen die PKK aufgrund abnehmender Kämpferzahl und Desertion geschwächt sei, wurden vom Militärchef der HPG Murat Karayilan als Propaganda zurückgewiesen.Die Hoffnung der Kurden auf einen autonomen Staat, wie er nach dem Ersten Weltkrieg im Vertrag von Sèvres 1920 noch vorgesehen war, wurde mit dem Friedensvertrag von Lausanne 1923 nicht erfüllt. Er besiegelte im Gegenteil die Aufteilung der kurdisch besiedelten Gebiete zwischen den heutigen Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien. Die Grenze der traditionell kurdisch besiedelten Gebiete im Südosten der Türkei wird von den Provinzen Sanliurfa, Elazig, Erzincan, Erzurum und Agri gezogen. Diyarbakir, die selbsternannte Hauptstadt der Kurden, befindet sich im Zentrum. Nach Gründung der türkischen Republik 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk sollten sämtliche in der Türkei lebenden Kulturen zu einer türkischen Nation verschmolzen werden. Die säkularen Reformen Kemals hatten innerhalb der tribalen kurdischen Bevölkerung jedoch keine Grundlage. Zudem konnten sich die linguistisch und kulturell zu Iran gehörenden Kurden nicht mit der nationalistischen Staatsideologie identifizieren, die jeden, der die türkische Staatsbürgerschaft besaß, auch kulturell als Türken definierte. Den Widerstand der Kurden, der sich in den 1920er und 1930er Jahren der Republik in mehreren, zum Teil auch religiös motivierten Erhebungen gegen die Staatsgewalt manifestierte, versuchte man mit Vertreibungen und Zwangsumsiedelungen von lokalen Autoritäten und Stammesführern zu brechen. Durch die Zerstörung örtlicher Machtgefüge sollte ein Vakuum geschaffen werden, in dem die Staatsdoktrin des Kemalismus greifen konnte. Bis heute hat sich diese Politik des türkischen Staates gegenüber seiner kurdischstämmigen Bevölkerung gehalten. Mit Aufhebung der Einparteidiktatur nach dem Zweiten Weltkrieg und der darauf folgenden Formation neuer Parteien stand es auch kurdischen Notabeln (Sheiks, Stammesführern, Agas) offen, politische Ämter zu bekleiden. Sie nutzten ihren Einfluss auf staatlicher Ebene jedoch weniger für die sozioökonomische Entwicklung des Ostens als zur Festigung ihrer Macht durch Klientelismus und den Ausbau ihres Großgrundbesitzes. So blieben die kurdisch besiedelten Gebiete bei der Industrialisierung des Landes und staatlichen Entwicklungsprogrammen auf der Strecke und verharren bis heute in feudalen Strukturen, bei denen fünf Prozent der ansässigen Familien über 65 Prozent des gesamten Landes verfügen.Der kurdische Widerstand in den Städten flammte vor dem Hintergrund der weltweiten 1968er Unruhen auf, die kurdische Studenten durch sozialistische, revolutionäre Publikationen verstärkt für die Situation ihres Volkes sensibilisierten. Nach dem zweiten Militärputsch in der Geschichte der Türkischen Republik 1971, der bürgerkriegsähnliche Zustände nach sich zog, radikalisierte sich unter anderem auch der kurdische Widerstand. Als straff marxistisch-leninistisch organisierte Partei wurde die PKK 1978 von Abdullah Öcalan, einem Studenten aus Ankara, und seinen Anhängern gegründet. Kurz vor dem nächsten Militärputsch 1980 setzte Öcalan sich nach Damaskus ab. Am 15. August 1984 erklärte der bewaffnete Arm der PKK dem türkischen Staat den Krieg und kämpft seitdem gegen die Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der Türkei und gegen die Feudalherrschaft kurdischer Großgrundbesitzer. Ihre eigentliche Zielsetzung, die Gründung eines autonomen, sozialistischen Kurdistans, hat die PKK 1993 in Autonomierechte für Türkisch-Kurdistan innerhalb des türkischen Staatsverbandes umformuliert. Die Gründung eines kurdisch-sozialistischen Staates und der damit zwangsläufig verbundene Gebietsverlust der Türkei stieß aufgrund ihrer geostrategischen Lage als Südostpfeiler der NATO international auf Ablehnung.Seit Kriegsausbruch 1984 sind über 3 Millionen Kurden aus ihren Dörfern vertrieben, über 3.400 Dörfer und Weiler entvölkert und zerstört worden. Seit 1987 wurde über 23.000 PKK-Kämpfer getötet, 3.700 gefasst und 2.300 haben sich den Behörden ergeben. In seiner Jahresbilanz 2000 gibt der türkische Menschenrechtsverein Insan Haklari Dernegi (IHD, Menschenrechtsvereinigung der Türkei) an, 147 Menschen hätten bei Kampfhandlungen ihr Leben verloren. Für das Jahr 2001 lag bei Abschluss des Berichtes noch keine vollständige Bilanz vor, bis einschließlich Juni 2001 beziffert der IHD die Zahl bei Kämpfen Getöten mit 72.Seit ihrer Gründung wird die PKK theoretisch vom Vorsitzenden Öcalan und einem mehrköpfigen Zentralkomitee geführt. Dieses hat jedoch faktisch keine Macht innerhalb der Partei, in der Öcalan, der seit Februar 1999 auf der Insel Imrali im Marmarameer in Isolationshaft sitzt, eine Einmann-Diktatur errichtet hat und mit drakonischen Maßnahmen gegen Leute aus den eigenen Reihen vorgeht, die von der Linie abzuweichen drohen. Die Geschicke der Partei werden weiterhin durch Anweisungen gelenkt, die er aus dem Gefängnis weiterleiten lässt.Auf den Terrorismus der PKK, die seit ihrer Kriegserklärung immer wieder Anschläge in den türkischen Großstädten verübte, reagiert die türkische Armee mit der periodischen Durchkämmung kurdischer Dörfer, Vertreibungen, Plünderungen und der Verhängung von Ausgangssperren. Die Dorfbewohner werden an der Ausübung ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeiten hindert, die die Versorgungsgrundlage der kurdischen Gebiete darstellen, und der Osten gerät immer mehr ins Elend. Zu einem andauernden Frieden in der Türkei gehört daher nicht nur die Zuerkennung kultureller Autonomie für die Kurden, sondern auch die Lösung des starken Wohlstandsgefälles zwischen dem Osten und dem Westen des Landes. Die jungen Leute fliehen entweder in die Städte oder gehen in die Berge, um sich den Guerillas anzuschließen. Hinzu kommt seit den 1990er Jahren der Bau mehrerer Staudämme im Rahmen des "Güney Anadolu Projesi" (GAP, Südanatolien Projekt), dass, obwohl es die wirtschaftliche Not im Südosten mildern soll, die Flutung vieler Dörfer vorsieht und somit Tausenden von Menschen ihre Lebensgrundlage entzieht. Nach dem Tod von Staatspräsident Turgut Özal im April 1993 wurde die Zerstörung der Dörfer systematisch vorangetrieben und ein Lebensmittelembargo verhängt, das eine Hungersnot im gesamten türkischen Südosten auslöste. Durch die daraus resultierende Ausdünnung der Bevölkerung wurde es für die PKK immer schwieriger, ihre Kämpfer vor Ort zu rekrutieren. Sie bekam vor allem in dieser Zeit auch Zulauf aus Europa sowie von Kurden aus Irak und Iran. Der Ausnahmezustand, der am 19. Juli 1987 über 13 Provinzen im Osten der Türkei verhängt wurde, ist für die südöstlichsten Provinzen Diyarbakir, Sirnak, Hakkari und Tunceli (Dersim) im Berichtsjahr zum über 40. Mal verlängert worden. Das Militär setzte seine Militäroperationen im Südosten der Türkei und im nordirakischen Raum fort. Bereits Mitte Dezember 2000 waren 10.000 türkische Soldaten in den Nordirak einmarschiert und 300 Kilometer tief in kurdisch besiedeltes Gebiet vorgedrungen.Nach Angaben des IHD verloren zwischen Januar und April bei Kampfhandlungen in den Gebieten Sirnak, Diyarbakir und Bingöl 22 Guerillas und sieben Soldaten ihr Leben. Im April wurden wegen einer bevorstehenden neuen Großoffensive im Irak Truppen in Semdinli, Yüksekova, Hakkari und Mardin zusammengezogen, auch aus dem irakischen Grenzgebiet sind verstärkte Truppenbewegungen gemeldet worden. Von April bis Mai verloren bei Kämpfen in den Regionen Hakkari, Semdinli und Diyarbakir sechs Soldaten und 14 PKK-Kämpfer ihr Leben, was die PKK jedoch dementierte. Laut pro-kurdischen Quellen starben bei einer Offensive in Bingöl im Juni 16 Guerillas durch den Einsatz von Giftgas, in Yüksekova/Hakkari wurden Militärs stationiert sowie Flugzeuge und Hubschrauber dorthin verlegt. Im südanatolischen Kanicenge-Gebiet nahmen Kontrollflüge von Kriegsflugzeugen zu. Im August meldete der türkische Generalstab den Beginn einer Großoffensive in den Haftanin-Bergen mit den geographischen Begrenzungen Zaxo im Süden, Uludere im Westen und Begova im Osten. Bereits am ersten Tag der Offensive haben intensive Gefechte zwischen Guerillas und 300 bis 400 Soldaten stattgefunden, auf türkischer Seite wurden große Verluste durch Minen verzeichnet, die vermutlich vor Jahren vom türkischen Militär gelegt worden sind.Die türkische Regierung macht der kurdischen Minderheit gegenüber weiterhin keine Zugeständnisse. Die im Vergleich zum letzten Jahr reduzierte Anzahl der Truppen scheint weniger auf die Kompromissbereitschaft der türkischen Regierung als auf die türkische Finanzmisere zurückzuführen sein, die im Februar 2001 durch einen heftigen Streit zwischen dem türkischen Ministerpräsidenten Ecevit und dem Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer ausgelöst wurde. Über Nacht stieg die Inflationsrate auf nahezu 100 Prozent. Sezer hatte 1999 durch eine Grundsatzrede vor dem Parlament auf sich aufmerksam gemacht, als er Reformen im Hinblick auf mehr Meinungsfreiheit aber auch die offizielle Anerkennung der kurdischen Sprache forderte. Für internationale Aufmerksamkeit sorgte ein im Oktober 2000 begonnener und im Dezember 2001 noch andauernder Hungerstreik, mit dem PKK-Anhänger und Gefängnisinsassen gegen die geplante Gefängnisreform der Türkei protestieren. Ziel der Reform ist eine augenscheinliche Verbesserung der Haftbedingungen, indem man die Zellenbelegung von bisher 80 bis zu 100 Mann auf Zweier- und Dreierzellen reduzieren will, um sie auf EU-Standard zu bringen. Die Gefangenen protestieren mit Nahrungsverweigerung, da sie sich in größeren Gruppen besser gegen Übergriffe des Gefängnispersonals zur Wehr setzen können. Trotz vieler nationaler und internationaler Vermittlungsangebote zeigte sich die türkische Regierung bisher nicht kompromissbereit.Mit dem immer näher rückenden Beitritt zur EU gerät die Türkei zunehmend unter Handlungsdruck. Ein Ende der Kampfhandlungen im türkischen Südosten zwischen den Guerillas der PKK und dem Militär scheint jedoch nicht absehbar. Durch fortdauernde Kampfhandlungen wird sie jedoch immer tiefer in die Finanzmisere, die sich im Gegensatz zu den letzten Jahren seit Februar noch um ein Vielfaches verschärft hat, hineingetrieben, was eine finanzielle Förderung des Ostens, die zur Entspannung der Lage unabdingbar wäre, nicht möglich macht.Franziska Stock
Weiterführende Literatur und Informationsquellen:
- Barkey, Henri J. / Fuller, Graham E.: Turkey's Kurdish Question, Lanham u.a. 1998
- Ibrahim, Ferhad (Hrsg.): The Kurdish Conflict in Turkey. Obstacles and Chances for Peace and Democracy, Münster u.a. 2000
- Yalåin-Heckmann, Lale / Strohmeier, Martin (Hrsg.): Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur, München 2000
- www.berlinet.de/kurdistan (Linksammlung zu Kurdistan)
- www.ihd.org.tr (IHD)
- www.tsk.mil.tr (türkische Armee)
- www.turkishnews.com (regierungsnahe Nachrichten)
- www.turkiye.org (Regierung der Türkei)
Türkei (Kurden II, PKK, 2004 - andauernd)
AKUF-Datenbanknr.: |
306 |
Kriegsdauer: |
01.06.2004 - andauernd |
Kriegstyp: |
B-2 |
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