Russland
Kriege in Russland seit 1945
Russland (Inguschien, 1992)
AKUF-Datenbanknr.: |
209 |
Kriegsdauer: |
30.10.1992 - 11/1992 |
Kriegstyp: |
B-2 |
Kriegsbeendigung |
durch Abbruch der Kämpfe (Kämpfe unterhalb der Ebene Krieg) |
Kriegführende |
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Seite A |
Bewaffnete inguschische Kräfte |
Seite B |
Autonome Republik Nordossetien |
Intervention Kriegsbeendigung |
Russische Föderation (seit 31.10.1992) |
KONFLIKTGEGENSTAND UND -ZIELE
Ende Oktober 1992 eskalierten die seit dem Frühjahr 1991 sporadisch andauernden Kämpfe in der autonomen russischen Föderationsrepublik Nordossetien zwischen den bewaffneten Kräften der inguschischen nationalen Minderheit und nordossetischen Truppen um den Bezirk Prigorodny. Ziel der Inguschen ist es, den nahe der nordossetischen Hauptstadt gelegenen Bezirk in den Bestand der seit 1991 als autonom anerkannten inguschischen Republik aufzunehmen.
Auslöser für den Territorialkonflikt war der Moskauer Erlaß über die Rehabilitierung unterdrückter Völker. Darin räumte die russische Regierung im Frühjahr 1991 zumindest theoretisch die Möglichkeit ein, im Zuge der Rehabilitierung die Grenzen von autonomen Republiken und Gebieten zu verändern. Die inguschische Republik, die früher Bestandteil der autonomen Republik Tschetscheno-Inguschetien war, wurde im Juni 1991 von Moskau als unabhängig anerkannt. Seitdem forderte sie, wie auch die inguschische nationale Minderheit in Nordossetien, die Angliederung des historisch inguschischen Prigorodny-Bezirkes an die neue Republik.
ERGEBNISSE DES KRIEGES
Am 2. November 1992 verhängte der russische Präsident, Boris Jelzin, den Ausnahmezustand über Nordossetien und setzte für die Republik eine provisorische Verwaltung unter Vize-Regierungschef Georgij Chiza ein. Mit Hilfe einer ca. 10.000 Mann starken Interventionstruppe, bestehend aus Fallschirmjägern der föderalen Streitkräfte und Spezialeinheiten des Innenministeriums (OMON), gelang der provisorischen Verwaltung ab dem 5. November die Durchsetzung eines am Vortage beschlossenen Waffenstillstandes. Bei den knapp zehntägigen Kämpfen im Bezirk Prigorodnyi wurden mindestens 600 Menschen getötet. Mehr als 3.500 Häuser wurden zerstört und über 35.000 Inguschen vertrieben. Obwohl die intensiven Kämpfe mit dem Einmarsch der föderalen Truppe beendet wurden zog sich die Auseinandersetzungen in Form von kleineren Schußwechseln, Anschlägen und Geiselnahmen zunächst noch weiter hin. Der Ausnahmezustand für Nordossetien wurde erst im Februar 1995 aufgehoben, aber die Kriegsschwelle erreichte der Konflikt bereits seit Spätherbst 1992 nicht mehr.
Erste Verhandlungen zwischen den Republiksführungen Inguschetiens und Nordossetiens fanden im Februar und März 1993 unter russischer Vermittlung statt. Die russische Regierung verlangt von der inguschischen Seite die Aufgabe ihrer territorialen Ansprüche und von der nordossetischen Seite die Repatriierung der Flüchtlinge sowie von beiden Seiten die vollständige Entwaffnung und den Austausch der Geiseln. Ein am 20. März 1993 unterzeichnetes Abkommen wurde jedoch ebensowenig in die Praxis umgesetzt wie weitere Übereinkünfte im Dezember 1993 und Juni 1994. Das am 27. Juni 1994 unterzeichnete inguschisch-ossetische Repatriierungsabkommen scheiterte unter anderem an der Unfähigkeit der nordossetischen Regierung, den Rückkehrwilligen Sicherheitsgarantie zu geben und ihnen Wohnraum und Arbeitsplätze zu Verfügung zu stellen. Die Lage im Prigorodnyi-Bezirk bleibt daher trotz weiterer Abkommen zur Verbesserung der inguschisch-ossetischen Beziehungen vom Dezember 1995 und September 1997 sowie eines 50-Punkte-Programms zur Überwindung der Konflikte vom Oktober 1997 gespannt. Der Konflikt ist auf politischer Ebene bislang nicht gelöst und es kommt sporadisch weiterhin zu Anschlägen und Geiselnahmen.
Claus Neukirch
Russland (Tschetschenien I, 1994 - 1996)
AKUF-Datenbanknr.: |
210 |
Kriegsdauer: |
11.12.1994 - 23.08.1996 |
Kriegstyp: |
B-2 |
Kriegsbeendigung |
durch Vereinbarung ohne Vermittlung¹ |
Kriegführende |
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Seite A |
Russische Föderation |
Seite B |
Tschetschenische Nationalgarde² |
KONFLIKTGEGENSTAND UND -ZIELE
Die Wurzeln des tschetschenisch-russischen Konflikts, der sich seit 1991 zugespitzt hat, lassen sich bis in die Zeit der russischen Expansion im Nordkaukasus Anfang des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Konfliktgegenstand ist der Status Tschetscheniens. Während die Republik Tschetschenien seit 1991 die volle staatliche Unabhängigkeit von der Russischen Föderation anstrebte, bestand letztere auf der Beibehaltung des territorialen Status quo und war lediglich zu Zugeständnissen bei der Ausgestaltung der tschetschenischen Autonomie bereit. Die russische Seite befürchtete bei einer erfolgreichen Abspaltung Tschetscheniens eine Kettenreaktion im Nordkaukasus. Darüber hinaus hat Russland sowohl ein wirtschaftliches (Pipeline Grozny-Novorossisk) als auch ein militärisches Interesse (Zugang zum Transkaukasus, Iran, Türkei) an dem Gebiet.
Ebenso wie die meisten anderen Völker des Kaukasus widersetzten sich die Tschetschenen dem russischen Vordringen in ihre Heimat vehement. Die tschetschenische Widerstandkriege unter Scheich Masur Ende des 18. und unter Scheich Schamil Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich tief in das historische Gedächtnis der Tschetschenen eingegraben. Der Widerstand gegen die zaristischen und später sowjetischen Machthaber setzte sich auch nach dem Sieg der russischen Armee 1864 fort. Insbesondere die sowjetische Kollektivierungs- und Entislamisierungspolitik stieß in der auf Clan-Strukturen basierenden tschetschenischen Gesellschaft auf Ablehnung. Als Reaktion auf tschetschenische Guerilla-Aktionen kurz vor und während des Zweiten Weltkrieges ließ Stalin 1944 480.000 Tschetschenen nach Zentralasien deportieren. Zwar konnten die Tschetschenen 1957 wieder in ihre Heimat zurückkehren, doch blieben sie gegenüber der russischen Minderheit dort benachteiligt. Mit dem Beginn der wirtschaftlichen Reformpolitik Ende der achtziger Jahre verschärfte sich die sozio-ökonomische Krise zusehends und die Opposition gegen die russische Herrschaft in Tschetschenien nahm erneut zu.
Am 8. Oktober 1991 löste ein selbsternanntes Exekutivkomittee des "Tschetschenischen Nationalen Kongresses" das kommunistische Republiksparlament auf und setzte für den 27. Oktober Präsidentschaftswahlen an. Diese wurden von dem ehemaligen Luftwaffengeneral Dschochar Dudajev mit großer Mehrheit gewonnen. Die russische Bevölkerung Tschetscheniens hatte diese Wahlen boykottiert und auch das russische Parlament erkannte sie nicht an. Am 1. November erklärte Dudajev die Souveränität der Republik Tschetschnien und löste sie damit aus dem seit 1937 bestehenden Republiksverbund mit den Inguschen heraus. Die Moskauer Führung entsandte daraufhin eine 650 Mann starke Spezialeinheit in die tschetschenische Hauptstadt Grozny um ihrer Forderung nach Wiedereinsetzung der alten Führung Nachdruck zu verleihen. Nach kurzer Zeit zogen sich die Truppen allerdings unverrichteter Dinge wieder zurück. Am 8. November 1991 erklärte Dudajev die Unabhängigkeit Tschetscheniens und rief alle Tschetschenen zu den Waffen. In der Folgezeit verlor Moskau zusehends die Kontrolle über die Republik. Um die tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterlaufen, unterstützte die russische Regierung tschetschenische Oppositionsgruppen, die sich 1993 als Reaktion auf die schlechte Wirtschaftslage und den autoritären Führungsstil Dudajevs gebildet hatten, mit Waffenlieferungen und später auch mit eigenen Soldaten. Am 26./27. November 1994 wurden bei dem Versuch der Opposition Grozny zu erobern 70 russische Soldaten von Dudajev-Anhängern gefangengenommen. Daraufhin marschierte am 11. Dezember 1994 die russische Armee unterstützt von Truppen des Innenministeriums mit ca. 23.000 Mann in Tschetschenien ein.
ERGEBNISSE DES KRIEGES
Der russische Einmarsch in Tschetschenien war verbunden mit starken Artillerie- und Luftangriffen auf Grozny, so dass die Innenbezirke bei der Einnahme der Stadt fast vollständig zerstört wurden. Nach der Einnahme des Präsidentenpalastes setzten die Tschetschenen ihren bewaffneten Widerstand in den umliegenden Städten und Dörfern fort. Darüber hinaus trugen die Tschetschenen den Krieg durch die Geiselnahmen von Budjonnovsk Mitte Juni 1995 und Kisljar Anfang 1996 auch in das angrenzende Gebiet Stavropol und die Republik Dagestan.
Mit der Einrichtung einer OSZE-Unterstützungsgruppe in Grozny am 24. April 1995 verbesserten sich die Rahmenbedingungen für eine Verhandlungslösung. Der OSZE gelang es in Grozny einen neutralen Verhandlungsrahmen für die beiden Konfliktparteien zu schaffen und einen direkten Dialog zu initiieren. Dieser im Mai 1995 begonnenen Verhandlungsprozess führte am 30. Juli 1995 zum Abschluß eines Waffenstillstandsabkommens, welches u.a. den Austausch von Gefangenen und eine schrittweise Entwaffnung tschetschenischer Einheiten bei einem parallelen Rückzug russischer Truppen vorsah. Das Abkommen wurde jedoch praktisch nie eingehalten und schließlich am 8. Oktober 1995 endgültig ausgesetzt. Im Februar und März 1996 kam es zu einer erneuten Eskalation der Kämpfe woraufhin Präsident Jelzin am 31. März einen Friedensplan vorlegte. Weder dieser Plan noch ein Treffen Jelzins mit dem Nachfolger des am 17. April 1996 bei einem russischen Angriff getöteten Präsidenten Dudajev, Selimchan Jandarbijev, am 26. Mai 1996 konnte jedoch den Krieg beenden. Dies gelang erst mit dem Abkommen von Chasavjurt, daß der damalige Chef des russischen Sicherheitsrates, General a.D. Alexander Lebed, am 22. August 1996 mit dem tschetschenischen Stabschef Maschadov ausgehandelt hatte. Die Kernpunkte des Abkommens von Chasavjurt bestanden in dem vollständigen Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien sowie in der Bestimmung eine Entscheidung der Statusfrage erst Ende 2001 zu fällen. Der eigentliche Konfliktpunkt aber wurde weder durch das Übereinkommen noch durch den am 12. Mai 1997 unterzeichneten Friedensvertrag gelöst.
Der anderthalbjährige Krieg hat ca. 60.000 Opfer gekostet und über 400.000 Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Sein Ende ist zudem nicht gleichbedeutend mit einem Ende der Gewalt in Tschetschenien. Die Verheerungen des Krieges, der Zerfall staatlicher Machtstrukturen und die hohe Anzahl gut bewaffneter aber arbeitsloser Männer haben die ohnehin schon hohe Kriminalitätsrate in der Republik weiter ansteigen lassen. Geiselnahmen und Raubüberfälle sind in Tschetschenien und den benachbarten Gebieten praktisch an der Tagesordnung. Die teilweise mit Waffengewalt geführten Machtkämpfe zwischen den verschiedenen tschetschenischen Gruppen sorgen zudem für eine weitere Destabilisierung, die sich auf den gesamten Nordkaukasus auszuweiten droht.
ANMERKUNGEN
[2] Die auf tschetschenischer Seite kämpfenden Truppen waren trotz des offiziell einheitlichen Kommandos heterogen strukturiert. Sie rekrutierten sich größtenteils auf Clan-Basis und um ihren jeweiligen Feldkommandanten herum. Daher kam es sowohl zu unkoordinierten Einzelaktionen wie auch zu Kämpfen zwischen diesen Gruppen. Der russische Angriff hatte im übrigen eine pro-tschetschenische Solidarisierungswelle unter anderen nordkaukasischen Völkern hervorgerufen. Diese äußerten sich in sporadischen Aktionen gegen die aufmarschierenden russischen Truppen sowie in der Kriegsteilnahme von Freiwilligen. Zu einer organisierten Teilnahme nordkaukasischer Gruppen kam es jedoch nicht.
Claus Neukirch
Russland (Tschetschenien II, 1999 - andauernd)
AKUF-Datenbanknr.: |
243 |
Kriegstyp: |
B-2 |
Kriegsbeendigung |
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Kriegführende |
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Seite A |
Tschetschenische Rebellen |
Seite B |
Russland |
KONFLIKTGEGENSTAND UND -ZIELE
Der Krieg in Tschetschenien ging im Jahr 2001 unvermindert weiter. Zwar ist es den russischen Sicherheitskräften gelungen, die größeren Rebellenverbände zu zerschlagen, der Widerstand der Tschetschenen wurde dadurch jedoch nicht gebrochen. Aus den unzugänglichen Bergen und der zerstörten Hauptstadt Grosny attackieren die Separatisten erfolgreich Konvois, Kontrollposten, Patrouillen und Kasernen. Die Verhandlungen zwischen Vertretern des letzten Präsidenten der tschetschenischen Republik, Aslan Maschadow, und der russischen Zentralregierung am 18. November 2001 scheinen in dieser militärischen Pattsituation ein kleiner Hoffnungsschimmer zu sein, deren Folgen aber bisher noch nicht abzusehen sind.
Die Eskalation der Kämpfe im Sommer 1999 traf die Region in einer Zeit des zögerlichen Wiederaufbaus. Trotz des tschetschenischen Sieges im Ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) blieb Tschetschenien Teil der Russischen Föderation. Nach dem vollständigen Rückzug der russischen Truppen am 5. Januar 1997, war für eine kurze Zeit relative Stabilität eingekehrt. Schon Ende Januar desselben Jahres wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten, aus denen der ehemalige Generalstabschef der tschetschenischen Streitkräfte, Aslan Maschadow, als Sieger hervorging. Für die verschiedenen tschetschenischen Clans galt der moderate Muslim als guter Kompromisskandidat, da er zwar geborener Tschetschene ist, aber fast sein ganzes Leben beim Militär in Russland verbracht hat. Die Bevorzugung eines einzelnen Clans des tribal organisierten Tschetscheniens sollte damit verhindert werden.
Maschadow gelang es jedoch nicht, sich die Unterstützung aller ehemaligen Feldkommandeure und Clanchefs zu sichern. Obwohl er einen seiner schärfsten Konkurrenten, Shamil Basayev, zuerst zum Armeechef und später sogar zum Premierminister erhob, ging dieser bald in die Opposition zu dem Ex-General der sowjetischen Streitkräfte. Erschwerend kam hinzu, dass die von Russland versprochene Aufbauhilfe nur sehr spärlich floss und sich dem Land ohne eine funktionierende Wirtschaft keinerlei Zukunftsperspektive bot. Einzelne Kommandeure der Milizionäre gingen dazu über, ihren eigenen Interessen nachzugehen und sich um das Überleben ihrer jeweiligen Clans zu kümmern. Es kam wiederholt zu Entführungen ausländischer Arbeiter, um Lösegeld zu erpressen. Auch Raubzüge in die benachbarte russische Region Stavropol nahmen an Intensität und Häufigkeit zu, ebenso wie der Diebstahl von Erdöl aus der Pipeline, die durch Tschetschenien und Dagestan führt. Die Grenze zwischen kriminellen und politisch-separatistischen Zielen verwischte immer mehr.
In dieser Situation bildeten muslimische Clanchefs eine in ihrer politischen Bedeutung herausragende Gruppe. Im Februar 1999 konnten sie Aslan Maschadow dazu bewegen, die Einführung des islamischen Rechtskodex Scharia und die Formulierung einer islamischen Verfassung zu veranlassen. Zeitgleich wurde die Gründung eines Konzils bekannt gegeben, welches die Republik in Harmonie mit den islamischen Gesetzen regieren sollte. Das Konzil, dem Basayev vorsaß, wurde von Maschadow, der am 21. März beinahe einem Attentat politischer Kontrahenten zum Opfer fiel, nicht anerkannt. Trotzdem verlor Maschadow wesentlich an Einfluss.
Der Konflikt zwischen der russischen Föderation und tschetschenischen Rebellen eskalierte im Juli 1999 durch wiederholte Überfälle auf Miliz- und Grenzposten sowohl an der tschetschenisch-russischen als auch an der tschetschenisch-dagestanischen Grenze. Am 3. Juli 1999 beschloss das russische Innenministerium, offensiv gegen tschetschenische Kämpfer vorzugehen. Es kam daraufhin zu Angriffen russischer Grenztruppen auf vermeintliche Rebellenstellungen. Aufgrund der sich seitdem schnell intensivierenden und kontinuierlichen Kampfhandlungen markiert dieses Datum den Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges.
Anfang August 1999 fielen mehrere hundert Separatisten unter der Führung von Basayev in die benachbarte Republik Dagestan ein und besetzten innerhalb weniger Tage mehrere Dörfer. Am 10. August rief Basayev eine "Islamische Republik Dagestan" aus. Für die islamistischen Rebellenführer sollte dies die Kernzelle einer islamischen Kaukasusrepublik sein. Mit Hilfe einer dagestanischen Freiwilligenarmee und massiven Artillerie- und Luftangriffen gelang es den russischen Streitkräften bald, die Rebellen zurückzuschlagen und sie bis Ende August aus Dagestan zu vertreiben.
Dieser Überfall auf Dagestan diente den Föderationsstreitkräften als Legitimation, die Angriffe auf Tschetschenien auszuweiten. Die russische Luftwaffe beschränkte ihre Bombardierungen zuerst auf die Rückzugsrouten und Nachschubwege in der an Dagestan grenzenden Bergregion, flog aber ab Ende September 1999 auch Angriffe auf die Hauptstadt Grosny. Als Rechtfertigung dafür wurden unter anderem mehrere Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau herangezogen, bei denen im selben Monat fast 300 Zivilisten getötet und mehrere hundert verletzt worden waren. Die russische Führung machte tschetschenische Separatisten für die Anschläge verantwortlich, obwohl nie Beweise dafür vorgelegt wurden. In der russischen Öffentlichkeit führten diese Bombenattentate zu einer breiten Unterstützung des Krieges in Tschetschenien.
Am 1. Oktober 1999 begann eine groß angelegte, russische Bodenoffensive. Anfangs wurde nur über die Schaffung einer Sicherheitszone geredet, doch bis Ende November schälte sich die Einnahme ganz Tschetscheniens als offensichtliches Ziel der Aktion heraus. Um Verluste unter den russischen Streitkräften zu minimieren, führte die Armee, wenn möglich, einen Kampf aus der Entfernung. Dabei wurden Rebellenstellungen und Dörfer solange mit Flugzeugen, Hubschraubern, Artillerie und Raketenwerfern angegriffen, bis alle vermeintlichen Rebellen geflohen waren. Gravierende Zerstörungen wurden dabei in Kauf genommen. Zu direkten Kampfhandlungen kam es in dieser Phase des Krieges nur vereinzelt, da die tschetschenischen Kämpfer die offene Feldschlacht gegen einen überlegenen Feind vermieden. Zähen Widerstand leisteten die tschetschenischen Rebellen erst in Grosny. Nach der Einkesselung durch russische Truppen Anfang Dezember war die Hauptstadt wochenlang das Ziel schwerster Artillerie- und Luftangriffe. Die Einnahme erfolgte mit viel größerer Vorsicht als Ende 1994. Aufklärungstrupps, meist Moskau-treue Tschetschenen, erkundeten Rebellenstellungen, die dann mit Artillerie beschossen wurden. Die Angriffe wurden auf einzelne Stadtteile konzentriert und diese dann nach der Einnahme systematisch durchsucht. Trotzdem forderten die Straßen- und Häuserkämpfe besonders auf russischer Seite viele Opfer. Nach sechs Wochen heftiger Kämpfe verkündete Präsident Wladimir Putin am 6. Februar die Einnahme der völlig zerstörten Stadt. Zuvor hatten sich einige Rebellenverbände aus der Stadt zurückziehen können, Feldkommandeur Basayev wurde dabei schwer verletzt.
Die Hauptstadt Grosny hat für beide Konfliktparteien eine große symbolische Bedeutung. Für die russische Militärführung ist sie vor allem das Kainsmal der Niederlage im Ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996). Die Rückeroberung sollte diesen Makel auslöschen und gleichzeitig dem damaligen Interimspräsidenten Putin Wahlkampfhilfe leisten. Ohne ein eigenes politisches Profil verknüpfte Putin seinen Präsidentschaftswahlkampf sehr eng mit dem Konflikt in Tschetschenien und gab sich als Verfechter einer starken russischen Militärmacht. Mit Frontbesuchen warb er um Sympathie bei Wählern und Soldaten.
Die wirtschaftlichen Interessen der Russischen Föderation im Nordkaukasus, dem schon immer eine hohe geostrategische Bedeutung zukam, konzentrieren sich auf die Förderung und den Transport von Erdöl. Insbesondere die Pipeline, welche durch Tschetschenien und Dagestan die reichen Ölfelder des Kaspischen Meeres mit dem russischen Schwarzmeer-Hafen Noworossijsk verbindet, war als Devisen-Einkunftsquelle für Russland von besonderem Interesse. Sie war immer wieder das Ziel von Sabotageakten tschetschenischer Rebellen und Krimineller. Eine russische Alternativroute um Tschetschenien herum ist schwierig zu realisieren. Durch das sich intensivierende Engagement US-amerikanischer Erdölkonzerne am kaspischen Meer und im südlichen Kaukasus fühlte sich die russische Führung zusätzlich unter Druck gesetzt. Gleichzeitig wurde die Erdölgewinnung in Tschetschenien wieder ausgebaut, nachdem sie in den letzten Jahren immer stärker verfallen war. Sabotageakte machen langsame Fortschritte aber immer wieder zunichte.
Schließlich hat die Russische Föderation insgesamt keinerlei Interesse an einer Abspaltung einer ihrer Teilrepubliken und insbesondere nicht an einem islamischen Staat an seiner Grenze, der zu einem Einflussverlust im gesamten Kaukasus führen würde. Seit den Anschlägen in den USA am 11. September dieses Jahres betont die russische Führung diesen Punkt besonders. Sie setzt die tschetschenischen Rebellen mit internationalen Terroristen gleich und hebt die Bedeutung der ausländischen Kämpfer in den Reihen der Separatisten hervor. Damit versuchte Russland, dem vor allem im Ausland immer wieder kritisierten Tschetschenien-Krieg als Kampf gegen den internationalen Terrorismus eine größere Legitimität zu verleihen.
Seit dem Verlust Grosnys führen die Rebellen ihren Kampf aus dem bergigen Süden und der zerstörten Hauptstadt heraus. Allein in der Hauptstadt werden noch 300 Rebellen vermutet. Die Separatisten vermeiden direkte Gefechte und führen einen Kampf mit Landminen und Feuerüberfällen auf Nachschubkonvois und kleinere Militärposten. Da die Armee unfähig schien, den Krieg siegreich zu beenden, beschloss Wladimir Putin am 22. Januar 2001, die Verantwortung für den Konflikt dem russischen Geheimdienst Federal'naya Sluzhba Bezopasnosti (FSB) zu übertragen. Große Teile der 80.000 Soldaten sollten abgezogen werden, stattdessen sollten die Rebellen mittels punktgenauer Aktionen russischer Spezialeinheiten ausgeschaltet werden. Aber auch diese Strategie hat bisher nicht zu großen Erfolgen geführt. So sind nur sehr wenige der Feldkommandeure getötet oder gefangen genommen worden. Die Tötung Arbi Barayevs, der von Moskau für viele Entführungen verantwortlich gemacht wurde, ist der einzige Erfolg gegen prominente Anführer der Separatisten.
Am 17. September des Berichtsjahres überfielen 300 Rebellen Gudermes und nahmen die Stadt im Handstreich teilweise ein. Diese erste größere Aktion der Separatisten seit dem Verlust Grosnys, beweist, dass die Russische Föderation auch das Flachland im Norden der Region nicht unter Kontrolle hat. Erst mit gepanzerten Verbänden und schwerer Artillerie konnten die russischen Streitkräfte die Stadt zurückerobern. Dabei sollen Teile der Stadt schwer beschädigt worden sein. Von einer Rückkehr zur Normalität kann also auch weiterhin nicht gesprochen werden. Die angekündigte Truppenreduzierung wurde bisher nicht vollzogen. Im Gegenteil starteten die russischen Streitkräfte zum Jahreswechsel eine erneute Offensive gegen versteckte Rebellen südöstlich von Grosny. Die mehrere Tage andauernde Aktion sollte die Separatisten weiter in die Berge zurücktreiben. Auf beiden Seiten gab es mehrere Tote, ein durchschlagender Erfolg wurde jedoch nicht erreicht.
Über Tote und Verletzte lassen sich keine verlässlichen Angaben machen, da beide Seiten Zahlen verfälschen und Berichterstatter nur unter russischer Aufsicht in der Krisenregion arbeiten können. Auf russischer Seite wurden bis November des Berichtsjahres offiziell 3.500 Tote und mehrere Tausend Verletze angegeben. Auf tschetschenischer Seite sollen Zehntausende getötet worden sein, wobei die Grenze zwischen Rebellen und sympathisierenden Zivilisten von den russischen Streitkräften nicht genau gezogen wird. Opfer unter Sympathisanten wurden sogar ausdrücklich in Kauf genommen.
Wie viele Zivilisten durch Artilleriebeschuss, Luftangriffe, durch Hunger und Kälte, Strafaktionen und Minen umgekommen sind, ist ungewiss. Verschiedene Schätzungen gehen von mehreren tausend Opfern aus. Auch die schlechte Moral und Versorgung der Föderationsstreitkräfte führt immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen; während groß angelegter Durchsuchungen ganzer Dörfer kommt es regelmäßig zu systematischen Misshandlungen von Zivilisten. Soldaten und Polizisten der Föderationsstreitkräfte entführen Zivilisten, um damit Lösegeld von den Familien und Dorfgemeinschaften zu erpressen. In diesem Punkt kritisierte sogar der von Moskau eingesetzte Verwalter der Region, Achmad Kadyrow, die militärische Führung scharf. Diese sah sich nach einer umstrittenen Aktion im Sommer des Berichtsjahres gezwungen, gegen einige Soldaten Untersuchungen einzuleiten. Die darufhin eingeleiteten Gerichtsverfahren sind noch nicht beendet. Präsident Putin rief daraufhin die Streitkräfte im Juli auf, sich gesetzestreu zu verhalten, und auch die Militärführung zeigte sich einsichtig und kritikfähig. Ob dies zu einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage führt, ist jedoch mehr als fraglich. Besonders, da die internationale Kritik an der russischen Kriegsführung in den letzten Monaten wieder leiser geworden ist.
Ein weiteres Problem sind die Kriegsflüchtlinge, die noch immer in provisorischen Lagern ausharren müssen. Die Hauptlast trägt die Nachbarrepublik Inguschetien, in der sich nach Angaben des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) mehr als 150.000 Flüchtlinge aufhalten sollen. Die anhaltenden Kämpfe verhindern eine Rückkehr der Menschen in die zerstörte Heimat. Dieses ungelöste Problem könnte auch ein Thema der Unterredung zwischen den Vertretern Maschadows und Putins gewesen sein, die sich am 18. November dieses Jahres erstmals offiziell auf dem Moskauer Flughafen trafen. Bislang hatte sich die politische Führung Russlands immer geweigert, mit Maschadow zu verhandeln. Trotzdem gab es scheinbar schon mehrere geheime Treffen. Diese erste offizielle Unterredung lässt auf eine diplomatische Lösung des Konfliktes hoffen, auch wenn sich Verhandlungen als sehr schwierig erweisen werden. Maschadows Autorität über die Rebellenverbände ist nur begrenzt und die Opposition der Feldkommandeure kostete ihn bereits vor der Eskalation des Konfliktes viel Macht. Zudem gibt es fast unüberbrückbare Differenzen über die Zukunft Tschetscheniens.
Eine militärische Lösung des Krieges scheint in weiter Ferne zu liegen. Die Rebellenverbände entziehen sich durch ihre Guerillataktiken immer wieder dem Zugriff der föderalen Armee, können diese aber auch nicht vertreiben. Die unangemessene Härte russischer Soldaten sowie die schlechte Behandlung der Zivilbevölkerung haben den Rebellen viel Sympathie zugetragen und führten zu einer tieferen Spaltung der Konfliktparteien. Ein Wiederaufbau der Region ist durch die anhaltenden Gefechte unmöglich. Die gerade begonnenen Verhandlungen werden sich als sehr schwierig erweisen und es ist anzunehmen, dass der Krieg noch lange andauern wird.
ERGEBNISSE DES KRIEGES
Marc Schlaphoff