Großbritannien
Kriege in Großbritannien seit 1945
Großbritannien (Nordirland, IRA, 1969 - 1994)
AKUF-Datenbanknr.: |
105 |
Kriegsdauer: |
14.08.1969¹ - 1994 |
Kriegstyp: |
B-2 |
Kriegsbeendigung |
durch Vermittlung Dritter (Kämpfe unterhalb der Ebene Krieg) |
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Kriegführende |
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Seite A |
Großbritannien² / Ulster Defence Association (UDA)/Ulster Freedom Fighters (UFF)³ (seit 1971) / Ulster Volunteer Force (UVF)/Protestant Action Force (PAF)[4] (seit 1969) |
Seite B |
Irish Republican Army/Provisionals (IRA) [5] (seit 27.6.1970) / Irish National Liberation Army (INLA)/Irish Republican Socialist Party (IRSP) [6] (?? - 1986) |
KONFLIKTGEGENSTAND UND -ZIELE
Der heutige Krieg in Nordirland ist Teil des 800jährigen irisch-britischen Konflikts um die Herrschaft auf der irischen Insel. Die bis in das 20. Jahrhundert immer wieder von blutig niedergeschlagenen Aufständen begleitete Politik der Unterwerfung des irischen Adels und der irischen Bauern, der Kolonisierung, der Anglikanisierungsversuche, der englischstämmigen Besiedlung besonders Nordirlands durch die britische Krone und schließlich der Niedergang vor allem textil- und werftindustrieller Entwicklungen als Folge weltwirtschaftlicher Konkurrenzverschiebungen erzeugten eine mehrfache Seg-mentierung der nordirischen Gesellschaft. Ein Ergebnis des Unabhängigkeitskrieges von 1922 war die Spaltung Irlands; im Norden entstand die britische Provinz Nordirland, die innenpolitsch nahezu souverän war und aufgrund der Grenzziehung ein Bevölkerungsverhältnis von zwei Dritteln Protestanten zu einem Drittel Katholiken aufwies. Der neu gegründete "Protestant State Of Ulster" benachteiligte die Katholiken in allen Lebensbereichen. Immer wieder erfolgten Überfälle protestantischer Extremisten auf Wohnviertel der Katholiken; außerdem wurden diese aus protestantischen Wohnvierteln vertrieben. Wahlkreisgrenzen wurden manipuliert.
Die politische Privilegierung der Protestanten war und ist verbunden mit einer Art Klientelsystem, in dem die verfügbaren Arbeitsplätze hauptsächlich innerhalb der protestan-tischen Bevölkerungsmehrheit verteilt wurden bzw. werden. Die soziale Segmentierung entlang konfessioneller Grenzen ist allerdings widersprüchlich und brüchig: Zwar befindet sich der Großteil des gesellschaftlichen Reichtums in den Händen der weitgehend protestantischen Ober- und Mittelschicht. Der protestantischen Unterschicht geht es jedoch kaum besser als der katholischen Unterschicht, die in desolaten Wohnverhältnissen leben muß und von hoher Arbeitslosigkeit betroffen ist.
Die Konkurrenzverhältnisse in der beiderseits benachteiligten Unterschicht bieten Anknüpfungspunkte für eine konfessionell akzentuierte Mobilisierung der Gegner. Das historisch bedingte, wechselseitige Belagerungstrauma unterfüttert diese Spannungen.
Am 12. August 1969 stürmten Protestanten in Derry (Londonderry) die Bogside - den katholischen Stadteil -, woraufhin sich deren Bewohner verbarrikadierten. Zwei Tage später rief der nordirische Premierminister die Briten zu Hilfe. Zu jener Zeit hatte die IRA noch nicht die Rolle übernommen, die sie heute spielt: gleichzeitig Guerilla und Schutztruppe der katholischen Bevölkerung zu sein.
ERGEBNISSE DES KRIEGES
Die Gesellschaft Nordirlands ist gespalten. Der Krieg reproduziert sich aus sich selbst heraus sowie aus den Strukturen auf beiden Seiten. Es besteht eine militante Sozialisation bei gleichzeitig wachsender Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung. Die vollständig geteilte Gesellschaft und die tiefen Wunden auf beiden Seiten lassen eine Beendigung des Krieges in absehbarer Zeit als wenig wahrscheinlich erscheinen. Nach britischen Aussagen ist die IRA militärisch nicht zu schlagen. Umgekehrt sind die Briten nach irischen Aussagen militärisch genausowenig zu besiegen.
Sechsmonatige Verhandlungen über erste, vorsichtige Schritte zu einer Befriedung des Bürgerkrieges endeten am 11. November 1992 ergebnislos. Teilnehmer waren Vertreter der gemäßigt-katholischen Nationalisten, der Republik Irland, Großbritanniens, der Unionisten und der radikalen Unionisten. Die paramilitärischen Organisationen blieben ebenso ausgeschlossen wie die Sinn-Fein-Partei wegen ihrer Nähe zur IRA. Sehr schnell zeigte sich die Unvereinbarkeit der Standpunkte: Nicht nur, daß die Protestanten jede Mitwirkung der irischen Republik in Sachen Nordirland ablehnen (die irische Verfassung erhebt einen Alleinvertretungsanspruch), auch auf den irisch-britischen Vorschlag einer geteilten Souveränität über Nordirland wurde ablehnend reagiert.
Inzwischen geht der Krieg in Nordirland unverändert weiter. Zusätzlich hat er einen medienwirksamen Zug erhalten: Mit Bombenanschlägen gegen britische zivile Einrichtungen - besonders in London - versucht die IRA, den Krieg für die britische Bevölk-rung und den britischen Staat so teuer und schmerzhaft wie möglich zu machen.
Der Krieg forderte bisher über 3.000 Menschenleben und hat das Land ökonomisch ruiniert. Nordirland ist eine der ärmsten Regionen Europas. Es erhält Unterstützung aus den EG-Regionalfonds. Doch entbehren diese Zuwendungen mitunter nicht eines gewissen Zynismus: So wurden in Belfast und Derry auf EG-Kosten Zäune und Mauern zur Trennung der verfeindeten Stadtteile errichtet.
ANMERKUNGEN
[1] Am 14. August 1969 wurden die britischen Truppen durch den nordirischen Premierminister zu Hilfe gerufen. Vorausgegangen war die Verbarrikadierung katholischer Wohnviertel gegen einen protestantischen Angriff. Hinsichtlich der Kriegsdefinition wirft dieses Datum jedoch Probleme auf. Die IRA als solche kämpft bereits seit 1919. Nach ihrer Spaltung in Provisional IRA und Official IRA griff die PIRA erstmals am 27. Juni 1970 in den Krieg ein. Zuvor hatte die katholische Bevölkerung Nordirlands die Verteidigung ihrer Viertel selbst organisiert, da die IRA wegen ihrer inneren Querelen handlungsunfähig war.
[2] Die Stärke der britischen Armee lag in den ersten Jahren bei ca. 40.000 Soldaten. Mit der in den 70er Jahren einsetzenden "Ulsterisierung" des Konfliktes wurde die Truppenstärke auf 10.000 reduziert. Von besonderer Bedeutung für die Terror-Bekämpfung durch die britische Seite ist die Eliteeinheit Special Air Service (SAS), die mit ihrer Praxis der Vermeidung von Gefangennahmen, dem "shoot-to-kill" und gezielten Hinterhalten in den vergangenen Jahren für Aufmerksamkeit gesorgt hat. Da der SAS verdeckt arbeitet, ist über seine Stärke in Nordirland keine Aussage möglich.
Nachdem 1969 die bei der katholischen Bevölkerung verhaßte Polizeieinheit "B-Specials" aufgelöst und die Truppenstärke der britischen Armee reduziert worden war, wurde eine nordirische Einheit der britischen Armee unter dem Namen Ulster Defence Regiment (UDR) mit einer Stärke von 6.000 Mann gegründet. Eine informelle Zusammenarbeit des UDR mit para-militärischen protestantischen Verbänden ist die Regel.
Auch die 12.000 Mann starke protestantisch dominierte Polizei Nordirlands, die Royal Ulster Constabulary (RUC), steht im Verdacht der Kollaboration mit paramilitärischen Verbänden der Protestanten. Vielfach wird den RUC-Mitgliedern vorgeworfen, gleichzeitig in illegalen Verbänden aktiv zu sein. Mit ihrer militärischen Ausrüstung (z.B. Panzerwagen) und ihrem rücksichtslosen Vorgehen in den katholischen Vierteln der Städte ist diese Einheit eine permanente Gefahr für die katholische Bevölkerung.
[3] Die UDA ist die einzige paramilitärische nordirische Organisation mit legalem Status. Sie unterhält unter dem Namen "UFF" Todesschwadronen. Wie bei der UVF und den loyalistischen Parteien besteht ihre Basis hauptsächlich aus der protestantischen Unterschicht. Sie sieht sich in Konkurrenz zur UVF und arbeitet wie diese informell mit den britischen bzw. nordiri-schen Sicherheitskräften zusammen, teilweise in Personalunion. Die UDA ist keine geschlossene Gruppierung, sondern eher eine Dachorganisation für diverse Splittergruppen. Die Mitgliederzahl liegt bei etwa 50.000. Die Opfer ihrer Aktivitäten sind häufig katholische Zivilisten, dennoch versucht die UDA, sich auf das IRA-Umfeld zu konzentrieren.
[4] Illegale protestantische paramilitärische Organisation, die unter dem Namen "PAF" Todesschwadronen unterhält, deren Opfer vor allem die katholische Zivilbevölkerung ist. Auf informeller Ebene gibt es zwischen der UVF und den britischen Streitkräften eine häufige Zusammenarbeit. Die UVF ist die älteste paramilitärische Organisation. 1913 wurde sie gegründet und besteht heute aus 2.000 bis 3.000 Mitgliedern, die sich vorwiegend aus der protestantischen Unterschicht rekrutieren. Ihre Ausrichtung ist loyalistisch, d.h. anders als die nordirischen Unionisten fühlt sie sich der britischen Krone, nicht aber den demokratischen Institutionen Großbritanniens verpflichtet.
[5] Gegründet 1919 als Zusammenschluß verschiedener bewaffneter republikanischer Gruppen nach dem Osteraufstand 1916. Sie bekämpfte die britische Armee im Unabhängigkeitskrieg, der 1922 mit der Teilung der irischen Insel endete. Danach spaltete sich die IRA: Ein Teil wurde zur südirischen Armee, die IRA führte den Bürgerkrieg gegen Großbritannien weiter. 1969 gab es eine erneute Spaltung der IRA in Provisionals (PIRA) und Officials (OIRA). Während die OIRA bald den bewaffneten Kampf beendete, trägt die PIRA (daher als "Provos" bezeichnet) den Krieg weiter. Die Anzahl der IRA-Kämpfer wird auf 300 bis 500 geschätzt. Obwohl die Rekrutierungschancen höher liegen, zieht es die IRA wegen der Infiltrationsgefahr vor, bei dieser Größenordnung zu bleiben. Die politische Vertretung der IRA ist die Sinn Fein ("Wir Selbst"). Diese erreicht bei Wahlen in Nordirland einen Stimmenanteil von 11 bis 13%, d.h. ca. 40% der katholischen Bevölkerung wählen Sinn Fein. Die Anhänger der IRA kommen fast ausschließlich aus der katholischen Unterschicht. Finanzielle Unterstützung für die IRA kommt insbesondere aus den USA von Exilierten (NORAID-Committee). Die eine Funktion der IRA besteht im Schutz katholischer Wohnviertel, die andere ist die einer Guerilla, deren Feind nicht die nordirischen Protestanten, sondern die britischen Truppen sind. Mit Anschlägen versucht die IRA Nordirland für Großbritannien unhaltbar, teuer und schmerzhaft zu machen, so daß sich die britischen Truppen am Ende zurückziehen müssen. In Belfast und Derry (Londonderry) kontrolliert die IRA ganze Stadtviertel, in der Grafschaft Armagh übt sie Polizeifunktionen wie auch Justizaufgaben etc. aus und organisiert den Alltag (z.B. Müllabfuhr).
[6] Hervorgegangen aus der OIRA, nachdem diese den bewaffneten Kampf beendete. An der OIRA kritisierte die IRSP die mangelnde militärische Komponente, an der PIRA die zu schwache sozialistische. Die INLA stand stets im Schatten der IRA. Nach dem Hungerstreik 1981 tendierte die IRA mehr nach links, so daß die INLA in eine Legitimationskrise geriet. Die großzügige Rekrutierungspraxis führte dazu, daß sie mit Spitzeln durchsetzt und ihr Apparat zerschlagen werden konnte. Hinzu kam der Verdacht, daß die Führer der INLA Schutzgelder erpreßt sowie sich an Beutegeldern persönlich bereichert hätten. 1986 erfolgte eine Spaltung in verschiedene Fraktionen, die sich gegenseitig bekämpften. Das Ergebnis sind zwei bedeutungslose Organisationen: die INLA und die Irish People's Liberation Organisation (IPLO).
Peter Tautkus
Bewaffnete Konflikte in Großbritannien seit 1993
- Nordirland (1994 - 1997)