Bericht von der digitalen Auftaktveranstaltung am 18. Februar 2021
26. April 2021
Am 18. Februar lud der Forschungsverbund zu einer ersten öffentlichen Veranstaltung ein, um die Forschungsvorhaben der Öffentlichkeit vorzustellen und gemeinsam mit drei renommierten Care-Forscherinnen über die Herausforderungen zukünftiger Forschung zu Sorgetransformationen zu diskutieren. Der Abend wurde auch grafisch begleitet, mit Graphic Recordings von Lena Hällmeyer.
Die Veranstaltung begann mit einer Vorstellung der Ziele des Forschungsverbunds (Folien). Almut Peukert, die neben Wolfgang Menz Sprecherin des Verbunds ist, skizzierte zunächst die Herausforderungen und Ansatzpunkte interdisziplinärer Carearbeitsforschung. Sie verwies auf die Fragilität menschlichen Lebens, die die existentielle Notwendigkeit von Sorgearbeit begründe. Sorgearbeit sei vielgestaltig und in komplexe Beziehungen und Verhältnisse eingewoben. Gleichzeitig sei die krisenhafte Organisation von Carearbeit nicht mehr zu übersehen, die gesellschaftlichen Bedingungen verunmöglichen gegenwärtig, Sorge angemessen zu leisten.
Vor diesem Hintergrund sei es nicht verwunderlich, dass auch Forschung zu Carearbeit in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Die Forschung des Verbunds setzt dabei an verschiedenen zu beobachtenden Transformationsdynamiken an: dem demographischen Wandel und Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sowie damit verbundenen Herausforderungen durch Fachkräftemangel; dem Wandel von – bezahlter und unbezahlter – Arbeit; verschiedenste Technisierungsprozesse, die Sorgearbeit verändern und die Frage aufwerfen, inwiefern Technologien eine Lösung für Probleme von Carearbeit sein können; die Pluralisierung von Carearrangements durch die gestiegene Anerkennung von vielfältigen Lebens- und Familienformen; ein Wandel wohlfahrtsstaatlicher Regulierungen hin zu einem sozialinvestiven Paradigma; sowie schließlich dem Wandel der Geschlechterverhältnisse. Der Verbund hat sich das Ziel gesetzt, diese Dynamiken und ihr Zusammenwirken interdisziplinär, auf verschiedenen Ebenen (Mikro, Meso, Makro) und multimethodisch innerhalb von vier Clustern zu analysieren. Der Transfer in die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit wird dabei ebenso wichtig sein wie das grundlegende Ziel, das mit der Förderung verbunden ist: die Beantragung einer DFG-Forschungsgruppe, die es erlauben würde, die angelegten Fragen weiter zu bearbeiten. Besonders herausfordernd ist dabei aktuell, dass sich durch Corona sowohl der Forschungsgegenstand, also die Carearbeit selbst, verändert hat, aber auch unsere Arbeitsbedingungen als Forscher:innen dadurch beeinträchtigt sind.
Katharina Zimmermann stellte Cluster I „Sorgelücken – Sorgebrücken“ vor; hier soll u.a. die ungleiche Aufteilung der unbezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern auf Makro- und auf Mikroebene untersucht werden, mit Blick auf den sozialinvestiven Staat und die Aushandlungsprozesse innerhalb von Paaren. Auch behandelt wird die (Unter-)Bewertung von bezahlten Tätigkeiten in Sorgeberufen. Anlässlich der Corona-Pandemie ist zudem ein weiteres Teilprojekt entwickelt worden, das die möglichen Veränderungen der Arbeitsteilung in Paarbeziehungen durch Homeoffice untersucht.
Cluster II wurde von Daniela Rastetter vorgestellt; hier geht es um „(A-)symmetrische Interaktionen“. Eine wichtige Frage hier ist, ob bzw. inwiefern Asymmetrien, die für Sorgebeziehungen charakteristisch sind, durch Technisierung verstärkt oder abgebaut werden, z.B. in Bezug auf Altern und Altenpflege, Vertrauensbeziehungen in Caredienstleistungen im Haushalt oder auch hinsichtlich Emotions- und Gefühlarbeit sowie den Belastungen dieser Arbeit.
Cluster III mit dem Titel „(Ent-)Solidarisierungen“ wurde von Petra Böhnke vorgestellt. Dieses Cluster untersucht, wie zugänglich Unterstützungsleistungen und Fürsorge sind, von welchen Akteur:innen sie getragen werden und wie zugeschriebene Verantwortlichkeiten institutionalisiert sind, z.B. zwischen den Generationen, deren Fürsorgebeziehungen von normativen Verpflichtungsvorstellungen geprägt sind. Hierbei werden auch rechtliche Perspektiven einbezogen.
Anne Vogelpohl stellte Cluster IV vor, in dem „Auf-/Abwertungen“ von Carearbeit untersucht werden, Aufwertungen z.B. durch Akademisierung, Abwertung durch geringe Bezahlung und Nicht-Sichtbarkeit. Besondere Schwerpunkte sind zum einen der Blick auf Sorge als Arbeit am Gemeinwesen, konkret am Beispiel von sorgenden Nachbarschaften und caring communities im Stadtteil. Zum anderen wird es um Arbeitskämpfe im Bereich bezahlter Carearbeit gehen.
Brigitte Aulenbacher, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziologische Theorie und Sozialanalyse (Johannes Kepler Universität Linz), widmete sich in ihrem Impuls der „großen Transformation des Sorgens“. Sie begann ihre Ausführungen mit der grundlegenden These, dass kapitalistische Gesellschaften strukturell sorglos seien und Sorgeerfordernisse den ökonomischen Zwecken untergeordnet werden. Sorge sei gleichzeitig in komplexe funktions- und arbeitsteilige Sorgeregime eingebettet, u.a. abhängig von Normen, Institutionen, Privatwirtschaft, Staat, Haushalt, sozialen Netzwerken sowie Beschäftigungs-, Wohlfahrts-, Migrations- und Geschlechterregimen. Mit Bezug auf Karl Polanyis „Doppelbewegung“ argumentierte sie, dass wir gegenwärtige eine „große Transformation“ der gesellschaftlichen Organisation von Sorge erleben: zum einen eine Bewegung der Vermarktlichung („economic shift“) und Technologisierung („technological shift“), zum anderen eine „Gegenbewegung“, mit neuen gemeinschaftlichen Formen des Sorgens („community shift“), teils als Reaktion auf den „economic shift“, teils durch eigenständige Ansprüche an Sorge motiviert. Abschließend wies Brigitte Aulenbacher auf die Stärke von Interdisziplinarität bei der Erforschung dieser uneindeutigen Bewegungen hin.
Martina Brandt, Professorin für Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften (TU Dortmund), widmete sich in ihrem Impuls „Ungleichheit, Pflege und Wohlbefinden im Kontext“ (Folien) insbesondere dem durch den demographischen Wandel verursachten Problem des steigenden Unterstützungsbedarfs bei sinkenden Unterstützungspotenzialen bei der Pflege älterer Menschen. Ihre Forschung adressiert dabei u.a. Fragen nach Wohlbefinden und Ungleichheiten im europäischen Kontext. Das Verhältnis zwischen Bedarf und Potenzial werde immer ungünstiger; gleichzeitig zeigen sich im Vergleich europäischer Länder deutliche Unterschiede, die auf die Bedeutung des Zusammenspiels von Familie, Staat, Markt, aber auch informeller Sorgebeziehungen wie Nachbarschaft und Ehrenamt verweisen. Ihre Befunde zeigen, dass von einer Komplementarität formeller und informeller Unterstützung ausgegangen werden kann. Die (nationale und regionale) Pflegeinfrastruktur sei entscheidend für die Übernahme informeller Pflege, deren Intensität und ihre Auswirkungen auf individuelles Wohlbefinden. Das verweise auf „Stellschrauben“, aber auch auf weiteren differenzierenden Forschungsbedarf, z.B. hinsichtlich Stadt-Land-Unterschiede, Alleinstehenden, Personen mit „Sandwich“-Belastungen u.v.m. Die Pandemie deutete sie zudem auch als Krise der Angehörigenpflege, die diese Dynamiken noch verschärft hat.
Adelheid Biesecker, emeritierte Professorin für Wirtschaftswissenschaften (Universität Bremen) und Mitglied im Netzwerk „Vorsorgendes Wirtschaften“, hielt einen Impulsvortrag zum Thema „Sorgetransformationen – Schritte auf dem Weg zu einer Vorsorgenden Wirtschaftsweise?“ (Folien). Sie begann ähnlich wie Brigitte Aulenbacher mit der grundlegenden Aussage, dass der Kapitalismus Lebensbedingungen systematisch zerstöre. Ihr Anliegen, eine sozialökologische Transformationsforschung, richtet sich daher auf die Frage, wie mit vorsorgendem Wirtschaften eine nachhaltige Ökonomie möglich werde. Charakteristisch für den Kapitalismus sei, so Biesecker, die „Trennungsstruktur“, die unbezahlte Sorgearbeit und Leistungen der Natur externalisiert und bezahlte Sorgearbeit als minderwertig behandelt. Die sozialökologische Krise sei eine Krise des „Reproduktiven“. Sozialökologische Transformationen im Sorgebereich müssten folglich an dieser „Trennungsstruktur rütteln“ und an einem Perspektivwechsel arbeiten. Transformation hieße, Sorge höher als Erwerbsarbeit zu werten. Konkrete Aufgaben wären daher, neue institutionelle Arrangements vorzuschlagen und neue Kooperationen zwischen öffentlich und privat zu entwickeln, eigene Zeiten für Sorge zu erkämpfen, Geschlechterparität zu stärken sowie für eine Aufwertung der bezahlten Sorgearbeit zu streiten. Eine Forschung, die sich diesen Aufgaben annehme, sei herausfordernd; Biesecker schloss ihren Impuls daher mit den Worten: „Seien Sie auf Konflikte gefasst, denn mit Ihrer Arbeit rütteln Sie an bewährten Strukturen alltäglicher kapitalistischer Gewinn bringender Ausbeutung. Es hilft aber nichts: anders ist engagierte Transformationsforschung nicht zu machen.“
In der abschließenden Diskussion wurden, u.a. angeregt durch die Kommentare von Katharina Liebsch und Miriam Beblo, einige Fragen vertieft. So wurde die Wichtigkeit international bzw. regional vergleichender Forschung betont, gerade hinsichtlich der diversen Carearrangements. Das werde u.a. deutlich an aktuellen Forschungen zu Live-in-Care, die Brigitte Aulenbacher zurzeit durchführt. Die Länderunterschiede seien gravierend. Ein weiterer Punkt adressierte die Frage nach den Stellschrauben, die das Wohlbefinden Sorgeleistender erhöhen könnten. Hier hob Martina Brandt auf den Ausbau entlastender Angebote ab, die aber auch gut bezahlt werden müssten. Für den von Adelheid Biesecker geforderten Perspektivenwechsel stellte sich die Frage nach den passenden methodischen Zugängen; sie betonte die Notwendigkeit, „die Leute zu fragen, was sie brauchen“, z.B. aktuell unter Corona.
Insgesamt wurde an dem Abend deutlich, wie groß die Herausforderungen interdisziplinärer Carearbeitsforschung sind, dass aber auch an eine breit aufgestellte, vielseitige und jahrzehntelange Forschungstradition angeknüpft werden kann. Almut Peukert und Tanja Carstensen unterstrichen abschließend den Wunsch nach Kooperationen über den Verbund hinaus in das breite Feld der Forschung zu Sorgearbeit und ihren Transformationen. Der Abend diente auch als Auftakt, zu diesen Herausforderungen in einen breiten Austausch zu kommen.