Sarah-Indriyati Hardjowirogo, brauchen wir noch menschliche Musiker:innen auf der Bühne?
Sarah-Indriyati Hardjowirogo (Universität Oldenburg):
"Als Ende 2021 bekannt wurde, dass es eine Comeback-Show der schwedischen Popband Abba geben würde, fand die Tatsache, dass dabei statt der vier menschlichen Bandmitglieder ihre digitalen Avatare auf der Bühne performen würden, deutlich mehr Beachtung als die neuen Songs, die im Rahmen des Konzerts präsentiert werden sollten. Was würde das für das Konzerterlebnis bedeuten?
In Japan sind solche Hologrammkonzerte derweil längst Teil der popmusikalischen Gegenwart: Seit 2007 gibt der Pop-Avatar Hatsune Miku dort Konzerte vor Zehntausenden Fans und zählt zu den größten Stars des Landes. Die Kritiken zu Abbas »Voyage«-Show im Frühjahr 2022 sind ganz überwiegend positiv, ja beinahe überschwänglich: Man könne glatt »vergessen, dass es nur Hologramme sind«, heißt es etwa, und dass die Band damit Kulturgeschichte schreiben werde.
In der Tat werfen derartige Formate die Frage auf, ob es überhaupt noch menschliche Musiker:innen auf der Bühne braucht. Gerade im popkulturellen Kontext ist die Liveness musikalischer Performances ohnehin zu einer zweifelhaften Kategorie geworden: Red Hot Chili Peppers spielen im Halbplayback beim Superbowl, und, nun ja – »We know you’re not really mixing«, David.
Menschen machen Fehler, sie verpassen den Einsatz, sie vergessen den Text, sie verfehlen den Ton und sind auch ansonsten eher unzureichend, Stichwort Befindlichkeiten, Stichwort positiver Corona-Test, man kennt das. Zweifellos sind sie zeitgenössischer Musiktechnologie performancetechnisch in mancher Hinsicht längst unterlegen. Oder?
Statt zu fragen, ob wir noch menschliche Musiker:innen auf der Bühne brauchen, müssten wir vielleicht eher fragen, wozu wir sie brauchen könnten. Die interessantere Frage lautet also: Was wollen wir von den Menschen auf der Bühne?
Die Akteurinnen und Akteure elektronischer Musik treibt diese Frage aus nahe liegenden Gründen schon länger um. Schließlich ist für das Publikum nicht nur relevant, ob überhaupt Menschen auf der Bühne zu sehen sind, sondern auch, was sie dort tun. Reicht es aus, wenn sie ab und zu mal irgendwas an ihrem Rechner machen und vielleicht ein bisschen mit dem Kopf nicken? Oder muss bei einer ernstzunehmenden musikalischen Performance zwingend Schweiß fließen?
Darüber lässt sich vor allem deshalb trefflich streiten, weil wir dabei aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen, Kenntnisse und Präferenzen leicht zu völlig unterschiedlichen Antworten kommen. Wenn wir ein Konzert besuchen, dann wohl vor allem, um gemeinsam mit anderen Menschen eine ganz bestimmte Art von musikalischer Performance zu erleben, mit allem, was dazu gehört. Was wir dabei auf der Bühne beobachten können, ist für dieses Konzerterleben zweifellos zentral. Und weil das so ist, versuchen wir – die eine mehr, der andere weniger – unweigerlich eine Beziehung herzustellen zu dem, was uns dort präsentiert wird. Und zwar auch dann, wenn darunter keine Menschen sind. Als 1956 Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge im großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks in Köln uraufgeführt wurde, bekam das Publikum statt menschlicher Musiker:innen übergroße Lautsprechertürme auf die Bühne gesetzt – und verfolgte mehr oder weniger gebannt deren visuell eher überschaubare Performance. Menschliche Performer:innen vergegenwärtigen dem Publikum fortwährend die Gemachtheit dessen, was es zu hören bekommt, selbst dann, wenn sie es nur symbolisch tun. Sie versinnbildlichen die potentielle Fehlerhaftigkeit ihres Tuns – und lassen uns erst dadurch ihre Performance überhaupt als solche erfahren."