Forschungsfeld II: Plurale Ökonomik - Paradigmenentwicklung und Anwendung
Nach Thomas S. Kuhn verläuft der wissenschaftliche Fortschritt nicht gradlinig, sondern weist immer wieder zentrale Bruchstellen auf, die als ‚wissenschaftliche Revolutionen‘ bezeichnet werden können. Auslöser solcher Brüche im Erkenntnisprozess, der mit dem Wechsel der grundlegenden Erklärungsmuster – dem Paradigma – verbunden ist, sind als ‚Krisen‘ bezeichnete Abweichungen der Modellprognosen von der empirisch messbaren Realität. In den Naturwissenschaften stehen häufig neue und verbesserte Messungen aufgrund neuer Technologien hinter solchen krisenhaften Entwicklungen, in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind es plötzliche sozioökonomische Entwicklungen, die den Rahmen des Paradigmas (zu) sprengen (scheinen). Eine derartige ‚Krise‘ ist aber lediglich eine notwendige, keine hinreichende Voraussetzung für eine wissenschaftliche Revolution – als weitere Bedingung muss die Existenz einer alternativen Erklärung – ein neues wissenschaftliches Paradigma – hinzukommen. In diesem Sinne kann die ‚keynesianische Revolution‘ als Paradigmenwechsel von der neoklassischen, partialanalytischen Grenznutzentheorie zur totalanalytischen Makroökonomie nach dem Ereignis der großen Wirtschaftskrise der 1930er Jahre interpretiert werden, wie die Rückkehr der mikroökonomisch-fundierten Allgemeinen Gleichgewichtstheorie in Gestalt der Neuen Klassischen Makroökonomie (NCM) als ‚Gegenrevolution‘ (oder gelegentlich auch ‚Rationale-Erwartungs-Revolution‘ genannt) nach der empirisch für den Keynesianismus so fatalen Stagflation der 1970er Jahre verstanden werden kann.
Die Weltfinanzkrise der Jahre 2008/2009 fegte auf politisch-pragmatischer Ebene die der Markteuphorie der NCM abgeleitete staatliche Interventionsskepsis schlagartig ebenso hinweg wie die Sicherheit der akademischen Ökonomen, mit der NCM tatsächlich ein realitätstaugliches Analyseinstrumentarium zu besitzen: So bestätigte Olivier Blanchard, Professor an der US-Eliteuniversität MIT und Chef-Ökonom des IWF, noch im Jahr 2008 der Makroökonomie deshalb einen guten Zustand, weil sich nach Zeiten der Diskussion im Zuge der ‚Gegenrevolution‘ in den 1970er Jahren nun ein breiter – im Sinne Kuhns wohl als Paradigma zu bezeichnender – Konsens in der Wirtschaftswissenschaft durchgesetzt habe: die so genannten D(ynamic)S(tochastic)G(eneral)E(quilibrium)-Modelle – , die vor allem auch empirisch gesättigt seien, wenn sie in ihrem Annahmen nur einige Rigiditäten zuließen. Nur zwei Jahre später – nach der Weltfinanzkrise – musste er dann eigenstehen, dass die in den DSGE-Modellen angelegte Stabilität der ökonomischen Interaktionen und die einseitige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf Preisstabilität zu sehr ‚eingelullt‘ hätte und forderte eine Neuorientierung der Wirtschaftswissenschaften. Auch im Zuge des Klimawandel oder der Corona-Pandemie hat das allzu optimistische Bild des freien Marktes merklich an Überzeugungskraft verloren, sodass durchaus pragmatischere Ansätze in der Wirtschaftpolitik reüssieren konnten.
Steht die Wirtschaftswissenschaft angesichts mehrer Dekaden multipler Krisen (Finanz-, Euro,- Klima-, Energiekrise) also endgültig vor einer neuerlichen wissenschaftlichen Revolution? Neben der ‘Krise’ als Auslöser bedarf es aber auch alternativer Ansätze, die das dominante Mainstream-Paradigma ablösen können. In diesem Forschungsfeld sollen daher gleichermaßen alternative, heterodoxe Ansätze (z.B. Postkeynesianismus, Regulationstheorie, historischer Institutionalismus, Sozialökonomik) und deren Verträglichkeit und Kompatibilität erforscht, wie auch Beiträge zur „Sozioökonomik der Ökonomik" geleistet werden, die die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft im Spannungsfeld von Erkenntnisgewinn, Aufmerksamkeit, Interessen und Anerkennung untersucht und Vorschläge für eine Sicherung pluraler Wissenschaftsprozesse in der Ökonomik erarbeitet.
Konkret befasst sich das Forschungsfeld mit der paradigmatischen Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft in den vergangenen Dekaden. Dabei wird auf eine dezidiert interdisziplinäre Herangehensweise zurückgegriffen, die wissenschaftstheoretische, sozioökonomische, wisssenschaftssoziologische und gesellschaftstheoretische Ansätze zusammenführt.
Zwischen 2012 und 2014 war das ZÖSS beispielsweise an dem von der Hans-Böckler-Stiftung finanziertem Forschungsprojekt „Ökonomen und Ökonomie – eine wissenschaftssoziologische Entwicklungsanalyse zum Verhältnis von Ökonomen und Ökonomie im deutschsprachigen Raum ab 1945" in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für die Gesamtanalyse der Wirtschaft der Uni Linz, dem Institut für Institutionelle und Sozio-Ökonomik der Uni Bremen und der Sozialforschungsstelle der TU Dortmund beteiligt. Im vom ZÖSS bearbeiteten Teil des Forschungsprojektes ging es um eine sozioökonomische Erklärung der Entwicklung der heterodoxen Ökonomie an deutschsprachigen Universitäten nach 1970.
An diese Ergebnisse anknüpfend hat sich am ZÖSS unter Federführung von Prof. Arne Heise das Feld der „Sozioökonomik der Ökonomik" etabliert. Hier werden die Ursachen und Konsequenzen der monistischen Entwicklung der Disziplin untersucht und nach den Voraussetzungen und Umsetzungsmöglichkeiten für alternative Entwicklungspfade gesucht.
Bisherige Forschungsergebnisse:
2023
Heise, A. (2023): Heterodoxe Ökonomik: Alternativen zum ökonomischen Mainstream. Springer VS Verlag.
2022
Heise, A., Pusch, T. (2022): Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 34: Mindestlöhne - Szenen einer Wissenschaft. Metropolis.
2021
Heise, A. (2021): The incommensurability of Keynes’s and Walrasian economics and the unsuccessful escape from old ideas. In: Economic Thought, Vol. 10, No. 2, 12-19.
Heise, A. (2021): ‘We need to offer something better to the scholars of the future.’ Some thoughts on the ‘Hodgson debate’. ZÖSS Discussion Paper, Nr. 94, Universität Hamburg.
Reinke, R. (2021): A critical note on the scientific conception of economics: claiming for a methodological pluralism. In: Journal of Philosophical Economics, Vol. 14, No. 1-2, 108-135.
2020
Grözinger, G., Peukert, H., Heise, A., Matiaske, W. (2020): Ökonomie in der Krise: Analyse-Kritik-Umgestaltung. Metropolis.
Heise, A. (2020): Comparing economic theories or: pluralism in economics and the need for a comparative approach to scientific research programmes. In: Journal of Philosophical Economics. Vol. 13, No. 2, 162-184.
Heise, A. (2020): Ideology and pluralism in economics: a German view. In: International Journal of Pluralism and Economics Education, Vol. 11, No. 2, 114-129.
Reinke, R. (2020): Das Wissenschaftsverständnis der Volkswirtschaftslehre in der Kritik: Implikationen für die Vision einer Pluralen Ökonomik. ZÖSS Discussion Paper, Nr. 79, Universität Hamburg.
2019
Heise, A. (2019): Postkeynesianismus. In: List Forum für Wirtschafts-und Finanzpolitik. Vol. 44, No. 4, 867-888.
Heise, A. (2019): The resilience of modern neoclassical economics – a case study in the light of Ludwik Fleck’s ‘harmony of deception’. In: Journal of Philosophical Economics. Vol. 13, No. 1, 1-18.
Heise, A. (2019): The Socioeconomics of Economics: Essays on the Construction of the Economic Discipline and Its Critique. Lit Verlag.
Hübenbecker, U. (2019): Wechselwirkungen zwischen orthodoxer Wirtschaftswissenschaft und Neoliberalismus. ZÖSS Discussion Paper, Nr. 73, Universität Hamburg.
2018
Heise, A. (2018): Reclaiming the University: transforming economics as a discipline. In: Journal of Philosophical Economics. Vol. 11, No. 1, 37-66.
2017
Heise, A., Sander, H., Thieme, S. (2017): Das Ende der Heterodoxie? Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft in Deutschland. Springer VS Verlag.
Heise, A. (2017): Defining economic pluralism: ethical norm or scientific imperative. In: International Journal of Pluralism and Economics Education. Vol. 8, No. 1, 18-41.
Heise, A. (2017): Die Perspektiven der Erneuerung der Wirtschaftswissenschaft in einem Lakatos-Bourdieu-Analyserahmen In: Maeße, J.; Pahl, H.; Sparsam, J. (Hg.): Die Innenwelt der Ökonomie. Wissen, Macht und Performativität in der Wirtschaftswissenschaft. Springer VS Verlag, 55-81.
Heise, A. (2017): Walras’ Law in the Context of Pre-Analytic Visions. In: Economic Thought, Vol. 6, No. 1, 83-96.
Heise, A. (2017): Whither economic complexity? A new heterodox economic paradigm or just another variation within the mainstream? In: International Journal of Pluralism and Economics Education. Vol. 8, No. 2, 115-129.
Heise, A. (2017): Wirtschaftspolitischer Diskurs ohne Alternativen. Zur Notwendigkeit einer pluralen Ökonomik. ZÖSS Discussion Paper, Nr. 60, Universität Hamburg.
2016
Heise, A. (2016): ‘Why has economics turned out this way?’ A socio-economic note on the explanation of monism in economics. In: Journal of Philosophical Economics. Vol. 10, No. 1, 81-101.
Heise, A., Thieme, S. (2016): The short rise and long fall of heterodox economics in Germany after the 1970s. In: Journal of Economic Issues. Vol. 50, No. 4, 1105-1130.
2015:
Heise, A. (2015): Aus dem Gleichgewicht. Über den Zustand der Wirtschaftswissenschaften. In: Forschung & Lehre, H. 5, 376-377.
Heise, A., Thieme, S. (2015): Die Marginalisierung der heterodoxen Ökonomik. Ein sozialökonomischer Erklärungsversuch. In: Jahrbuch für Ökonomie und Gesellschaft 27. Marburg: Metropolis, 241-282.
Heise, A. (2015): Eine kurze Geschichte der Wirtschaftswissenschaften in der Bundesrepublik nach 1945. In: Wirtschaftswissenschaftliches Studium. H. 8-9, 946-952.
Heise, A, Deumelandt, K. (2015): Sozialökonomie – ein Zukunftsprojekt. Metropolis.
Heise, A., Thieme, S. (2015): Zur De-Pluralisierung der Wirtschaftswissenschaften nach 1970: Explorationen in einem wissenschaftlichen Macht- und Kampffeld. In: Schmollers Jahrbuch, Jg. 135, H. 2, 1-34.
2014
Heise, A. (2014): The Future of Economics in a Lakatos-Bourdieu Framework. In: International Journal of Political Economy. Vol. 43, No. 3, 70-93.
Deumelandt, K., Heise, A. (2014): And the winner is... Von Rankings und Ökonomen-Hitparaden: einige provokante Überlegungen. In: Momentum Quarterly. Vol. 3, No. 1, 48-57.
Sander, H. (2014): Die Arbeitsteilung der Orthodoxie. Zur Studie „Spitzenforschung und Politikberatung“ in der Wirtschaftswissenschaft aus feldtheoretischer Perspektive. ZÖSS Discussion Paper, Nr. 44, Universität Hamburg.
2013
Heise, A. (2013): Stiglitz, Krugman und die Erneuerung der Wirtschaftswissenschaften. In: Busch, U., Krause, G. (Hg.): Theorieentwicklung im Kontext der Krise. Abhandlungen der Leibnitz-Sozietät der Wissenschaften. Band 35, 61-82.
Sander, H. (2013): Die Entwicklung der Heterodoxie in der universitären Volkswirtschaftslehre: Erste Annäherung an eine Feldanalyse in den Begriffen Pierre Bourdieus. ZÖSS Discussion Paper, Nr. 41, Universität Hamburg.
2012
Dürmeier, T. (2012): Wissenschaftlicher Pluralismus als Entdeckungsverfahren und das Monopol der Modellökonomik. ZÖSS Discussion Paper, Nr. 30, Universität Hamburg.
2011
Heise, A. (2011): When facts change, I change my mind …. Neuere Entwicklungen in der weltweiten Wissenschaftsgemeinschaft der Ökonomen und die Situation in Deutschland. ZÖSS Discussion Paper, Nr. 22, Universität Hamburg.
2010
Heise, A. (2010); Krise der Wirtschaftswissenschaft – Raum für Alternativen? Plädoyer für einen Pluralismus in der Ökonomik; in: Jens, U., Romahn, H. (Hrsg.), Methodenpluralismus in den Wirtschaftswissenschaften, Metropolis, 33 – 50.
2009
Heise, A. (2009): Toxische Wissenschaft? – Zur Verantwortung der Ökonomen für die gegenwärtige Krise; in: Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 89. Jg., H.12, 842 – 848.
2007
Heise, A. (2007): Das Ende der neoklassischen Orthodoxie? Oder: Wieso ein methodischer Pluralismus gut täte; in: Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Jg. 87, H. 7, 442 – 449.