Dossier "Lügenpresse"-RingvorlesungRingvorlesung „Lügenpresse“: 700 Besucher hörten „ZEIT“-Chefredakteur di LorenzoIm Wintersemester 2016/17 veranstaltet das Fachgebiet Journalistik und Kommunikationswissenschaft eine Ringvorlesung zum Thema "Lügenpresse". Über die einzelnen Vorträge berichten hier Master-Studierende im ersten Fachsemester.
1. November 2016
Im Wintersemester 2016/17 veranstaltet das Fachgebiet Journalistik und Kommunikationswissenschaft eine Ringvorlesung zum Thema "Lügenpresse". Über die einzelnen Vorträge berichten hier Master-Studierende im ersten Fachsemester.
„Recherche ist die neue Meinung“
Von Mira Taylor
Hamburg Es geht um Wahrheit, Lüge, Bullshit, um Trump und die AfD. Am 24. Oktober hat Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, einen Vortrag zum Streit um angebliche „Lügenpresse“ an der Universität Hamburg gehalten. Unter dem Titel „Nur Mut! Selbstbewusst und selbstkritisch gegen Propaganda und Verschwörungstheorien“ ermutigte Giovanni Di Lorenzo alle Bürger und Bürgerinnen, sich anhand von Fakten eine Menung zu bilden und dadurch populistischen Bewegungen entgegen zu wirken.
Populistische Aussagen beziehen sich laut di Lorenzo weder auf die Wahrheit noch auf die Lüge. Wenn der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump „haarsträubend falsche Aussagen“ treffe, sei das mit den Worten des amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt schlicht „Bullshit“. Mit unkonkreten und diffusen Verdächtigungen ziele er allein auf die Emotionen seiner Zuhörer. „So dreist, so laut, so medienwirksam hat bis jetzt keiner Bullshit verbreitet“, sagte di Lorenzo mit Bezug auf Trump. Daher sollten nicht nur Journalisten, sondern alle Bürger und Bürgerinnen vielfältige Argumente und Beweise zusammentragen und sich so dem „Bullshit“ zu Wehr zu setzten.
Jedoch gebe es „Feinde der Wahrheit nicht nur in den Vereinigten Staaten“, führte di Lorenzo weiter aus. Mit der AfD habe es auch Deutschland mit einer populistischen Bewegung zu tun, die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit herrschen lasse. Aus diesem Grund betonte di Lorenzo: Recherche sei die neue Meinung. Es bringe nichts, Aussagen von Trump und der AfD mit der entgegengesetzten Meinung zu bedenken. Es müssten gründlich recherchierte Tatsachen her.
Hierfür gebe es in Deutschland bereits Medien, die zu den besten und freiesten der Welt gehörten, erklärte di Lorenzo. Es gebe Standards, Regeln und Gesetze, welche Recherche, Informationsverarbeitung und -veröffentlichung bestimmten. Jedoch kämen auch Journalisten in ihrer Recherche immer wieder an Grenzen. Hier gilt es laut di Lorenzo, Recherchewege und Arbeitswege in der Zeitung aufzuzeigen und so transparent und nachvollziehbar zu gestalten.
Auch der Streit der Meinungen um Reizthemen müsse in diesem Sinne transparent gemacht werden, sagte di Lorenzo mit Blick auf die Flüchtlingsdebatte. „Wir haben in zu vielen Fragen zu konform reagiert“, gestand er ein. Unterschiedliche Meinungen müssten dargestellt werden, damit die Bürger sich daraus eine eigene Meinung bilden könnzen.
Hier rief der „ZEIT“-Chefredakteur auch andere Medien dazu auf, dem Beispiel der Wochenzeitung zu folgen und Journalisten aus unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen einzustellen. Di Lorenzo schilderte, dass die „ZEIT“ mit Mitarbeiterinnen in Führungspositionen und Journalisten und Journalistinnen mit Migrationshintergrund die Tür zu vielfältiger Berichterstattung weiter geöffnet habe.
Die Initiatoren der Veranstaltungsreihe „Lügenpresse - Medienkritik als politischer Breitensport“ vom Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg freuten sich über das große Interesse der Bürger und der Studierenden: „Wir haben den größten Hörsaal gewählt und es reicht nicht“, stellte Prof. Dr. Irene Neverla angesichts der sogar auf dem Boden und den Treppen hockenden Zuhörern ungläubig fest.
Di Lorenzo war einer von insgesamt vierzehn Rednerinnen und Rednern, die das Thema „Lügenpresse“ in den nächsten Wochen aus wissenschaftlicher und journalistisch-praktischer Seite beleuchten werden. Das weitere Programm ist hier abrufbar: https://www.aww.uni-hamburg.de/oeffentliche-vortraege/programm/08-luegenpresse-ws1617.html
Entschlossen gegen Blödsinn
von Iona Marie Schlußmeier
Hamburg. Im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Hamburg hat Giovanni di Lorenzo einen Vortrag zum Thema Lügenpresse gehalten. Der Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit sprach über das postfaktische Zeitalter, die Verbreitung politischen Bullshits und darüber, welche Möglichkeiten Journalisten im Umgang mit Vorwürfen haben.
Als „ein neues Wort für ‚ein bisschen doof‘“ beschrieb Giovanni di Lorenzo vor etwa 700 Zuhörern das Phänomen des Postfaktischen und widmete sich somit einem Thema, das nicht nur von medialer, sondern vor allem von politischer Relevanz ist: Der zunehmenden Orientierung an emotional aufgeladenen Inhalten, an Stelle von Zuwendung zu belegbaren Fakten. Kaum einer interessiere sich noch für diese, lautete di Lorenzos Vorwurf. Einen Vorteil könnten daraus vor allem politische Parteien, wie die Alternative für Deutschland (AfD), ziehen, die Wähler dadurch gewännen, dass sie Angst schürten. So würden nur etwa 1,5 Prozent mehr Ausländer straffällig als Deutsche. Die AfD beteuere jedoch wiederholt, dass der subjektive Eindruck innerhalb der deutschen Bevölkerung ein anderer sei und allein dieser zähle.
Laut di Lorenzo ist die Verbreitung von Unwahrheiten durch politische Akteure kein neues Phänomen. Neben den Optionen, Fakten oder Lügen zu erzählen, habe es schon immer auch die Möglichkeit gegeben, Bullshit, also blödsinnige Aussagen, im Sinne der eigenen politischen Interessen einzusetzen. Ein Bullshiter zeichne sich primär dadurch aus, dass er unkonkret spreche, keine Fakten nennen könne und Emotionen adressiere. Laut di Lorenzo wird ein solches Verhalten derzeit zwar primär mit dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump assoziiert, jedoch sei es auch in Deutschland ein geläufiges Problem, dass politische Parteien sich durch die Verbreitung von Blödsinn Gehör verschafften. Auf die Frage, ob es notwendig sei, gegen eine solche Form der Unwahrheiten vorzugehen, äußerte di Lorenzo: „Tatsächlich reagieren wir auf Blödsinn mit einer weitaus größeren Toleranz als auf Lügen. Er ist der größte Feind des Menschen.“ Man müsse sich einem solchen Blödsinn daher mit Entschlossenheit stellen.
Die Ansichten von politischen Bullshitern aus den Medien zu verbannen sei jedoch nicht der richtige Weg. Eine große politische Macht, wie beispielsweise die AfD, könne ohnehin nicht einfach wieder verschwinden. Laut di Lorenzo ist es offensichtlich, dass populistische Meinungen sich nicht etwa dadurch verbreiten, dass sie offen thematisiert werden, sondern vielmehr durch den stetigen Versuch, solche Gesinnungen kleinzureden oder zu verschweigen.
Um sich nicht von postfaktischen Meinungen mitreißen zu lassen, liege es in der Verantwortung des Einzelnen, sich zu informieren. „Wer in der Welt Bescheid weiß, kann weniger leicht hinters Licht geführt werden und kann sich wehren, wenn andere ihn zum Spielball seiner Interessen machen wollen.“ Bildung stelle die Grundlage dafür dar, auch mit solchen Personen zu diskutieren, die auf Fakten weniger großen Wert legten.
Darüber hinaus sieht di Lorenzo jedoch auch die Presse in der Pflicht, „der Unkultur des Gerüchts etwas entgegenzusetzen.“ Er selbst habe ebenso gehandelt, nachdem der Politiker Daniel Cohn-Bendit (Bündnis 90/Die Grünen) ihm öffentlich vorgeworfen hatte, er ändere seine Meinung in Fragen der Flüchtlingspolitik zu oft. „Also schickte ich ihm alle meine Artikel zu diesem Thema mit der Bitte, mir diese Wende nachzuweisen. Ich bin aber jetzt schon ganz sicher, dass er keine einzige Zeile von mir gelesen hatte.“ Neben einem solchen offenen Umgang mit Vorwürfen sei es auch essentiell, dass aufkeimende Gerüchte sorgfältig von Journalisten recherchiert werden und dass durch neue Formate mehr Transparenz geschaffen wird. Laut di Lorenzo liegt die Kerndisziplin darüber hinaus darin, sich als Journalist gegen aufkommende Vorwürfe zu wappnen. „Man kriegt viel zu hören, bevor einem die Ohren abfallen.“
Das Thema Lügenpresse wird noch bis Januar im Rahmen der Ringvorlesungen Teil von Vorträgen an der Universität Hamburg sein. Dabei soll auch weiterhin der Frage auf den Grund gegangen werden, welche Rolle das Phänomen der Lügenpresse aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht spielt.
Der gesamte Vortrag ist online bei Lecture2Go abrufbar.