„Potenziale im Journalismus erkennen und diese durch Forschung und Lehre fördern“
26. September 2025

Foto: Marco Larousse
Volker Lilienthal, Inhaber der auslaufenden Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur, spricht in einem Abschiedsinterview mit Michael Brüggemann (Programmdirektor JKW) über seine Zeit an der Universität Hamburg.
Fangen wir mal ganz am Anfang an. Wie kam es dazu, dass jemand mit Spaß am praktischen Journalismus schließlich an die Universität wechselte?
Volker Lilienthal: Das war eine schöne Überraschung, ein erfreulicher Anruf aus Hamburg. Offenbar hatte es in der Vorbereitung dieser Professur ein Talentscouting gegeben. Deswegen wurde ich angerufen und gefragt, ob ich mich nicht bewerben möchte. Das wollte ich, und zwar aus zwei Gründen: Ich hatte mir die Option Wissenschaft immer offengehalten. Ich war 20 Jahre lang Medienfachjournalist gewesen und habe mich sozusagen semiwissenschaftlich mit Journalismus beschäftigt. Außerdem wollte ich mich auch beruflich verändern. Zunächst habe ich die Professur vertreten, das war im Wintersemester 2007/08.
Du hast Journalismus also schon vorher professionell beobachtet. Gab es für dich einen Kulturschock an der Uni oder hast du alles so wie erwartet vorgefunden?
Also Kulturschock ist zu groß gesagt, aber natürlich ist das Arbeitsklima an einer Uni ein ganz anderes als im Journalismus. Im Journalismus muss es immer sehr schnell gehen und für meinen Geschmack brauchen Umsetzungen und Veränderungen an der Uni manchmal zu viel Zeit. Vor allem aber war es für mich persönlich ein anspruchsvoller Berufswechsel. Also man kann nicht einfach sagen, ich habe immer etwas mit Medien gemacht, das kann ich jetzt auch an der Uni machen. Sozusagen „irgendwas mit Medien“. Ich musste kolossal viel dazulernen. Zum Beispiel: wie wendet man Methoden richtig an? All das musste ich mir dann als plötzlich gewordener Prof aneignen. Und das war natürlich auch anspruchsvoll.
Und wie würdest du das heute sehen – nehmen sich Journalisten zu wenig Zeit für Recherche oder Wissenschaftler zu viel?
Als gewordener Wissenschaftler scheue ich natürlich vor Pauschalantworten zurück, die man empirisch nicht begründen kann. Ich denke, die Recherchetugenden im Journalismus sind heute etwas besser ausgebildet als noch vor zehn Jahren. Bei Wissenschaftlern und ihren Recherchen wundern sich Partner aus der Praxis oft, warum Publikationen so lange dauern. Das könnte schon etwas schneller gehen. Das hängt natürlich mit dem Peer-Review-System zusammen. Da musste ich mir persönlich auch ein bisschen mehr Geduld aneignen.
Wenn du die 16 Jahre an der Uni zurückblickst, woran erinnerst du dich gerne, was waren deine Highlights?
Das waren Forschungsprojekte, ganz am Anfang zu digitalem Journalismus, aktuell das noch laufende zur digitalen Sicherheit von Journalist:innen und ihren Quellen. Aber es gab auch mir besonders wichtige Praxisprojekte. Spontan erinnere ich mich jetzt an ein Projekt, bei dem wir für den Tagesspiegel eine ganze Beilage zu Europathemen produziert haben. Manches davon ist sogar noch online. Das waren Praxisprojekte, bei denen unsere Studierenden wirklich etwas Konkretes produzieren und veröffentlichen konnten. Die Ergebnisse führten also nicht nur zu einer Prüfungsleistung, die dann in den Akten verschwand, sondern wurden von Leserinnen und Lesern da draußen in der wirklichen Welt rezipiert. Das war mir persönlich immer sehr wichtig und hat, glaube ich, die Studierenden stark motiviert.
Mir ist beim Thema Rückblick eine Sache in den Kopf gekommen, die ich noch gut in Erinnerung habe: das BILD-Zeitungsprojekt. Du warst als erster Wissenschaftler vor Ort in der BILD-Redaktion. Was nimmst du daraus mit?
Ja, das ist zweifelsohne eines der wichtigeren Projekte gewesen. Ich war in der Tat der erste Kommunikationsforscher überhaupt, der in die BILD-Redaktion reingucken konnte. Ich nehme aus dem Projekt mit, dass das Scheitern von BILD-TV unter Chefredakteur Reichelt absehbar war, es war durch gehäufte Managementfehler sozusagen programmiert. Ich habe aus diesem Projekt auch mitgenommen, dass die BILD ein Medium ist, das sehr polarisierend bis häufig sehr problematisch berichtet. Das bedeutet aber nicht, dass alle Menschen, die dort arbeiten, in zweifelhafter moralischer Verfassung sind. Ich habe dort durchaus auch kluge Leute kennengelernt. Aber sie sind wie Rädchen im Getriebe. Sie können gar nicht anders. Unter einem starken Chefredakteursprinzip sind die journalistischen Freiheitsgrade und die journalistische Autonomie bei der BILD stark eingeschränkt. Aber letztlich muss natürlich jeder selbst entscheiden, ob er sich diesem System unterwirft.
Was hat dir am meisten Spaß gemacht an der Uni und was hat dich genervt?
Genervt hat mich gar nicht so viel. Am meisten Spaß gemacht hat mir die Lehre und deren Langfristeffekte. Ich freue mich noch heute wie Bolle, wenn ich mitbekomme, dass ehemalige Studierende zum Beispiel bei Spiegel Online gelandet sind und dort regelmäßig publizieren. Oder wenn sie ein NDR- oder Abendblatt-Volontariat ergattern. Wenn ich mitbekomme, dass jemand eine kleine oder auch mal größere Karriere hat entwickeln können, das freut mich bis heute. Großen Spaß hat mir übrigens auch die akademische Selbstverwaltung gemacht. Wissenschaft braucht für ihr alltägliches Funktionieren auch gutes Management. Erstarrte Konventionen, die man in der Academia durchaus erlebt, darf man auch mal sachte aufbrechen.
Gibt es etwas aus deiner Zeit als Fachbereichssprecher, was für dich wichtig war, wo du etwas erreichen konntest?
Den Allende-Platz 1 würde ich da nennen. Auf die Sanierung dieses Stammsitzes der Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg warten wir ja bis heute und viel zu lange. Im vergangenen Jahr musste endlich mal etwas passieren. Aus dem Fachbereichsrat heraus haben wir für ein bisschen Druck gesorgt. Als Sprecher schrieb ich der damaligen Wissenschaftssenatorin Frau Fegebank und übergab den Brief, der die Dringlichkeit der Sanierung deutlich machte, im Rahmen einer öffentlichen Kundgebung. Medien berichteten über die Aktion. Damit geriet ein bisschen was in Gang. Eine Planung lief an und schließlich sogar echte Baumaßnahmen. Im Ergebnis haben wir vier Seminarräume, studentische Begegnungsräume und Shared Offices zurückgewonnen. Das war ein Erfolg, der mir auch wichtig war. Aber es bleibt noch viel zu tun.
Du hast die Uni und die Studierenden geprägt und verändert. Aber auch die Uni hat dich geprägt. Du hast gesagt, du bist Wissenschaftler geworden – bist du Journalist geblieben?
Ich schreibe ja immer noch ein bisschen in Fachdiensten und in Zeitungen und gebe Radiointerviews. Insofern bin ich Journalist geblieben. Und vielleicht werde ich sogar im Ruhestand wieder ein bisschen mehr journalistisch schreiben, weil ich da mehr Zeit habe.
Gibt es irgendeine investigative Recherche, auf die wir uns freuen können?
Nein, die gibt es nicht. Aber ich habe einen Ordner, der heißt Hochschulpolitik. Und irgendwann hatte ich mir mal vorgenommen, vielleicht doch mal was über das Unileben zu schreiben. Ob es dazu kommt, weiß ich nicht, aber investigativ wird das nicht sein. Kein Skandalbericht, keine Enthüllung also.
Es gibt den Roman „Der Campus“, den du wahrscheinlich auch kennst. Er spielt am Allende-Platz. Könnte es dich beim Schreiben auch ins Fiktionale ziehen?
Nein, das glaube ich nicht, obwohl ich als junger Mensch mal Schriftsteller werden wollte. Aber ich musste dann einsehen, dass mein Talent dafür wohl nicht reicht.
Wie kam es dann dazu, dass du dich für den Journalistenberuf entschieden hast?
Es sollte irgendwas mit Sprache sein und es musste ein Brotberuf sein. So kam es dann sozusagen zu der Kompromisslösung, Journalist zu werden, was ich auch nie bereut habe. Ich bin all die Jahre leidenschaftlich Journalist gewesen. Wir brauchen Journalismus für die Selbstaufklärung einer freien Gesellschaft. Wenn der Journalismus nicht mehr ordentlich funktioniert, dann funktioniert auch unsere Meinungsbildung nicht mehr gut.
Was hast du für den Journalismus gelernt in deiner Zeit an der Uni?
Ich wollte Potenziale im Journalismus erkennen und wollte diese durch Forschung und Lehre fördern. Das war so ein bisschen mein Ansatz und den finde ich auch nach wie vor nicht falsch. Aber natürlich erlebt man auch immer wieder schlechten Journalismus, übrigens auch bei den vermeintlichen Elitemedien. Vielleicht müsste ich doch mal wieder kritischer hingucken.
Also fehlt es aus deiner Sicht an Medienkritik?
Nun, die gibt es ja an vielen Stellen. Aber werden diese Stimmen gehört? Was aus meiner Sicht sozusagen ein Grundproblem ist: dass der deutsche Journalismus immer noch keine angemessenen Antworten auf den Rechtspopulismus gefunden hat. Natürlich wird kritisch darüber berichtet. Aber das Dilemma, dass man durch kritische Berichterstattung diejenigen, die dieser politischen Richtung zuneigen, vor den Kopf stößt, müsste irgendwie gelöst werden. Es gibt Probleme im Umgang mit Migration, über die muss genauso berichtet werden wie über die Tatsache, dass Rechtspopulismus oder gar Rechtsextremismus die falsche Antwort auf diese Probleme sind.
Kann die Forschung dazu beitragen, eine Antwort zu finden? Oder müssen solche Fragen von den kreativen Journalistinnen und Journalisten selbst beantwortet werden?
Forschung kann da auch helfen, indem sie inhaltsanalytisch auf das Angebot schaut, aber nicht nur in eingeschränkt kritischer Perspektive, sondern auch mit Aufmerksamkeit für Beispiele von Best Practice. Ich erinnere an einen WDR-Journalisten, dem es erstmals gelungen ist, Alice Weidel aus dem Konzept zu bringen, weil er bestens vorbereitet war. Er hatte sehr gute Fragen parat und konnte sie zusätzlich mit der Korrektur ihrer eigenen Falschbehauptungen konfrontieren. Und so ein Best Practice, das gibt es nicht nur in diesem Beitrag, das gibt es auch hier und da und das müsste man mal aufbereiten. Wie sind diese Best Practices gestrickt? Wo ist das Muster, anhand dessen wir lernen könnten? Bei diesen Fragestellungen würde ich mir mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit wünschen.
Da sind wir beim Verhältnis zwischen Praxis und akademischer Kommunikationswissenschaft. Von beiden Seiten gibt es gewisse Vorbehalte zu kooperieren, miteinander zu reden und einander zuzuhören. Wie könnte man das überwinden?
Das ist zweifelsohne ein sehr interessantes Spannungsfeld. Zunächst muss man sich jedoch klar machen: Wer will was von wem in diesem Austauschverhältnis? Der Journalismus ist streng genommen nicht auf die Kommunikationswissenschaft angewiesen. Umgekehrt ist die Kommunikationswissenschaft auf den Journalismus angewiesen und will in Beobachtungen, Experteninterviews oder Experimenten Antworten und Daten von Journalistinnen und Journalisten haben. Ich denke, diese Berufsgruppe ist wahrscheinlich die meistbeforschte von allen. Also im Grunde ist sie überforscht. Deswegen kann man sich schon vorstellen, dass Journalistinnen und Journalisten dann ablehnend reagieren, wenn ihnen quasi jede Woche eine Anfrage aus einem Forschungsinstitut auf den Tisch kommt. Ein leitender Redakteur sagte mir mal, allein schon die Formulierung von Fragen zeige ihm, dass manche Wissenschaftler wenig Ahnung von der Realität in Redaktionen haben. Eine solche Blöße sollten sich professionelle Forschende nicht geben. Meine These ist, dass Journalismusforschung auch den Beforschten, also den Journalistinnen und Journalisten, einen Nutzen bieten muss. Was haben die davon, wenn sie uns Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei sich reingucken lassen? Bridging the gap – das haben wir in unserem Projekt „Digitale Sicherheit bei der Recherche“ versucht – erfolgreich, wie ich glaube. Journalistinnen und Journalisten wurden von uns trainiert, sie konnten ihr Wissen erweitern und waren dann natürlich eher bereit, uns Auskünfte in Interviews zu geben oder sich beobachten zu lassen. Mein Team, also Viviane Schönbächler, Jannis Frech und ich haben in „Journalism“ beschrieben, wie man Gebrauchswert anbieten und die Realität in den Redaktionen ansatzweise verändern kann, jedenfalls dann, wenn wie in diesem Fall das Sicherheitsniveau einer Redaktion wächst. Ich glaube, die Kommunikationswissenschaft könnte aktiver auf die Journalistinnen und Journalisten zugehen. Und sie muss gute Angebote machen. Sie sollte glaubhaft vermitteln: Was habt ihr davon, wenn ihr uns über eure alltägliche Arbeit erzählt?
In Zukunft wird der Studiengang stärker forschungsorientiert sein, sich mit Nachhaltigkeit und Digitalisierung als Herausforderungen für den Journalismus und andere Kommunikationsberufe beschäftigen. Die Ambition ist, dass wir praxisrelevant bleiben und Kooperationen mit Praxispartnern suchen. Wie könnte das gelingen, was möchtest du uns mit auf den Weg geben?
Also erst mal ist es ja kein Geheimnis, dass ich es bedauere, dass es künftig keine Module mehr für journalistisches Darstellen und journalistische Recherche geben wird. Da denke ich schon, dass die Studierenden die brauchen. Ich habe überhaupt nichts gegen eine stärkere Forschungsorientierung. Aber wahr ist auch, dass unsere Studierenden in die Medienstadt Hamburg kommen, da sofort in die Redaktionsjobs streben und von einem Masterstudium erwarten, dass sie für das Überleben in diesen Redaktionen fit gemacht werden. Und da habe ich meine leisen Zweifel, ob der Studiengang diese Praxisorientierung noch leisten kann. Sicherlich, wenn es gelingt, Praxiskooperationen dauerhaft und verlässlich aufzubauen, dann kann daraus etwas Gutes wachsen. Dafür müssen Ansprechpartner in Redaktionen gefunden, gepflegt und idealerweise die Chefredaktionen miteinbezogen werden.
Worauf freust du dich am meisten, wenn du wieder mehr Zeit hast? Was ist das Erste, was du gerne machen willst ab Oktober?
Ich freue mich darauf, für mich persönlich wieder etwas mehr Zeit zu haben. Aber ich habe noch keinen genauen Plan für den Ruhestand. Nach einem Arbeitsleben der Zielstreibigkeit brauche ich jetzt mal eine Phase von Planlosigkeit. Ich möchte auch ein bisschen Abstand zu Journalismus und Medien gewinnen. Ich möchte zum Beispiel mehr Romane als Zeitungen lesen. Außerdem werde ich nicht der beschäftigungslose Rentner sein, denn ich habe ja noch relativ junge Kinder und die brauchen mich auch. Was mir fehlen wird, ist Hamburg als Lebensraum. An dieser schönen Stadt hänge ich schon sehr.