Society Research
Interview mit Prof. Dr. Ève Chiapello
16 January 2018

Photo: CGG
Im September 2016 wurde der französischen Wirtschaftssoziologin Prof. Dr. Ève Chiapello der Anneliese Maier-Forschungspreis verliehen. Der Preis wird von der Alexander von Humboldt-Stiftung vergeben und ist mit 250.000 € dotiert. Er soll die Internationalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland fördern.
Ève Chiapello, die seit 2013 Forschungsdirektorin an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris ist und durch ihr mit Luc Boltanski verfasstes Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ international bekannt wurde, war von Prof. Dr. Anita Engels für den Preis nominiert worden. Sie arbeitet im Rahmen des Preises mit dem Centrum für Globalisation and Governance (CGG) der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg zusammen. Im November 2016 war sie mit ihrem Vortrag „The Work of Financialization“ in Hamburg. Im März diesen Jahres hat sie zusammen mit Dr. Lisa Knoll die Konferenz „Social Finance, Impact Investing, and the Financialization of the Public Interest“ durchgeführt (CGG Newsletter 01/2017) und im November/Dezember eine zweite Tagung – dieses Mal organisiert zusammen mit Anita Engels –, in der es um „Finance as a Response to Global Environmental Crises? Critical Analysis of the ‘Economicization’ of Carbon Emissions and Biodiversity“ ging. Eine Konferenz zu Finanzialisierung und internationaler Entwicklungszusammenarbeit ist für September 2018 geplant.
Die Redaktion hat mit Ève Chiapello darüber und über die Bedeutung des Forschungspreises für die Wissenschaftlerin gesprochen.
Frau Chiapello, was meint Finanzialisierung für Sie?
Chiapello: Der Begriff steht generell für die zunehmende Bedeutung der Finanzmärkte. Zum Beispiel sind Staaten für ihre Finanzierung immer mehr von Anleihen abhängig, die auf den Finanzmärkten gehandelt werden, und auch Unternehmen werden immer abhängiger von Finanzmärkten. Das ist eine tiefgreifende soziale Transformation, da die Verschiebungen von Finanzierungskreisläufen mit einer Veränderung des Denkens über Finanzen in der sozialen Welt einhergehen. Mich interessiert vor allem, wie sich verschiedene Denkweisen und Arten Probleme und deren Lösungen darzustellen verbreiten. Das betrifft auch Mangement-Instrumente, die aus dem Finanzbereich stammen und jetzt immer stärker in andere Bereiche übernommen werden. Diese Entwicklung führt dazu, dass es auch in Fragen von öffentlichem Interesse erst einmal um die Erzeugung und Sicherung von Renditen geht.
Wie ist das gemeint?
Chiapello: Das heißt, dass es auch im sozialen Sektor wichtig wird, den ‚Return on Investment‘, auszuweisen. Z. B. wird Jugendhilfe als ‚Investition‘ verstanden, und Politiker und Verwaltungen beginnen sich dafür zu interessieren, welchen ‚sozialen‘ und finanziellen Gewinn die entsprechende Organisation erwirtschaftet. Wie wird sich das Engagement für Kinder auszahlen? Hier können dann Untersuchungen angestellt werden, inwiefern entsprechende Ausgaben für die Gesellschaft ‚profitabel‘ sind – beispielsweise dadurch, dass in Zukunft höhere Steuereinnahmen erwartet werden können, dass das ‚Humankapital‘ verbessert wird, dass psychische Erkrankungen oder Kriminalitätsraten sinken. Auf Basis solcher Annahmen werden Renditen kalkulierbar und Investitionen in solche Organisationen legitimiert. Einige Akteure versuchen auf dieser Basis auch Investments als Produkte für Finanzinvestoren anzubieten.
Aber ist es in Zeiten beschränkter Ressourcen nicht von Vorteil auf private Investitionen zurückgreifen zu können?
Chiapello: Dieses Argument wird häufig von Befürwortern verwendet, um solche Initiativen zu legitimieren. Aber das Problem ist Folgendes: Indem soziale Projekte zu Produkten auf dem Finanzmarkt werden, wird die Frage nach dem Bedarf, den die Gesellschaft an diesen Projekten hat, zweitrangig. Nichtregierungsorganisationen oder soziale Einrichtungen laufen dadurch Gefahr, nur noch aus der Perspektive der Investoren gesehen zu werden, d. h. vor allem nach zu erwartenden Renditen bewertet zu werden. Sofern Finanzialisierung zu einem politischen Grundsatz wird, ist damit die faire und vollständige Versorgung mit sozialen Dienstleistungen in Gefahr, da nicht alle sozialen Projekte vermarktlicht werden können oder profitable Investitionen sind.
Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie wollen in ein Projekt investieren, das Menschen in Arbeit bringt. Aus finanzieller Perspektive wäre es natürlich günstiger, in ein Projekt – in Menschen – zu ‚investieren‘, die dem Arbeitsmarkt näher stehen, weil sie sehr schnell eine Arbeit finden werden und das Investment in das Projekt damit auch sehr viel schneller – oder überhaupt – Gewinn abwirft. Weniger selbstverständlich erschiene dagegen eine Investition in Menschen, die sehr arbeitsmarktfern sind oder mit vielschichtigen Problemen zu kämpfen haben. Wenn die finanzielle Profitabilität von Sozialprojekten oberste Priorität wird, können dadurch auch ‚Investitionen‘ in ältere Menschen als wenig lohnenswert erscheinen, da sich beispielsweise auf Grund ihres Ruhestandes oder ihrer höheren Gesundheitskosten nur schwer ein profitables Projekt entwickeln lässt.
Und was schlussfolgern Sie daraus?
Chiapello: Sofern man vor allem die Rendite von solchen Projekten im Blick hat, besteht die Gefahr, andere, aus sozialer Sicht möglicherweise relevantere Aspekte zu vergessen. Es gibt in jeder Gesellschaft Menschen, die arbeiten, und Menschen, die nicht arbeiten. Zur nicht arbeitenden Bevölkerung gehören Menschen mit Behinderungen, alte und junge Menschen, Studierende. Bei der Frage der Finanzierung von Sozialprojekten geht es eigentlich um die Verteilung von Einkommen. Es ist die Entscheidung zu treffen darüber, wie auf die Bedürfnisse des nicht arbeitenden Teils der Bevölkerung eingegangen wird, und wie dies finanziert werden soll. Es geht darum, wie in einer Gesellschaft Solidarität organisiert wird. Und hier gibt es im Wesentlichen zwei gegenteilige Möglichkeiten: Entweder tragen die Menschen darüber, dass sie Steuern zahlen, zu einem Solidarsystem bei oder sie müssen sich um ihre Eltern, Kinder, oder auch Familienangehörige mit Krankheiten oder Behinderungen selbst kümmern. Die Suche nach Finanzinvestoren lässt uns vergessen, dass hier letztlich genau diese Entscheidung auf dem Spiel steht.
Sie beschäftigen sich ja nicht nur mit Fragen der Finanzialisierung im Sozialbereich. In ihrer zweiten Tagung am CGG im November/Dezember ging es um Ökonomisierung und Klimawandel. Worin unterscheiden sich Ökonomisierung und Finanzialisierung?
Chiapello: Im Zusammenhang mit dem Klimawandel wollten wir uns mit Transformationen befassen, die möglicherweise nicht als Finanzialisierung zu bezeichnen sind. Z. B. wissen wir von Kompensations- und Emissionsrechten nicht, ob sie finanzialisiert sind. Das sind neuartige Produkte, bei denen erst einmal zu ermitteln ist, worum es sich dabei handelt. Wir haben den breiteren Begriff der Ökonomisierung angesetzt, da die Transformationen und Instrumente, die im Zusammenhang mit dem Klimawandel und dem Verlust an Biodiversität zum Einsatz kommen, auf jeden Fall ökonomische Instrumente sind.
Ich war etwas erstaunt darüber, dass Sie sich mit so verschiedenen Themen wie dem Sozialsystem und dem Klimawandel beschäftigen. Diese Bereiche unterscheiden sich ja stark.
Chiapello: Mein Buch mit Luc Boltanski endet in etwa Mitte der 1990er Jahre, in einer Zeit, in der zumindest in Frankreich eine Transformation der Finanzwirtschaft als eine Transformation des Kapitalismus sichtbar wurde. Die andere Transformation, die wir heute erleben, besteht im Klimawandel und ökologischen Krisen. Ich wollte zu dieser doppelten Transformation arbeiten, auch um zu verstehen was womöglich als Nächstes kommen kann.
Finanzialisierung hat einen starken Einfluss auf Sozial- wie auf Umweltpolitik. In beiden Fällen werden öffentliche Entscheidungsprozesse zunehmend durch dieselbe, finanzialisierte Sprache geprägt. Ich bin keine Expertin für soziale oder für Umweltfragen, aber mich interessiert, wie Entscheidungen in beiden Bereichen in der Sprache des Finanzmarkts artikuliert werden und was daraus folgt. Z. B. sehen wir in beiden Bereichen die Vermarktung von sozialer oder ökologischer Wirkung, des ‚Impacts‘. Impact kann dabei so gut wie alles sein: dass Kinder in die Schule gehen, dass alte Menschen versorgt werden oder dass Bäume nicht gefällt werden. In der Finanzmarktsprache bleibt die Bedeutung des Begriffs abstrakt. Ökonomisierung ist ein Prozess, in dem der Impact sozusagen aus seinem Zusammenhang herausgelöst wird. Finanzialisierung dagegen meint, dass Organisationen, die diesen Impact erzeugen, von privaten Kapitalmarktakteuren finanziert werden.
Unabhängig davon, ob es um sozialen Impact oder um Biodiversität geht, das Produkt kann verkauft und es kann in dieses Produkt investiert werden. Das ist die Perspektive, die mir wichtig ist. Ich möchte zeigen, dass durch diese Denkweise verschiedenste gesellschaftliche Bereiche und Entscheidungen ‚kolonialisiert‘ werden. Und ich nehme an, dass sich ähnliche Denkmuster auch im Bildungs- und im Kulturbereich finden lassen.
Darüber hinaus existiert häufig eine Kette von Intermediären zwischen den Anbietern und den Abnehmern der Impacts. Diese Vermittler erhöhen die Distanz und Abstraktion zwischen einem Problem und seiner möglichen Lösung. Dies führt zu einer eigentümlichen und neuartigen Relation zwischen Investoren und, beispielsweise, den Sozialarbeitern, die an der ‚Produktion‘ der Impacts arbeiten. Hier entsteht häufig das zusätzliche Problem, dass diese Intermediäre bezahlt werden müssen – und häufig sind ihre Gehälter wesentlich höher als die der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Es ist unmöglich nicht daran zu denken, dass es besser wäre, diese zusätzlichen Mittel für die Lösung sozialer und ökologischer Probleme aufzuwenden, anstatt für die Bezahlung dieser Vermittler.
Würden Sie sagen, dass Ihnen der Anneliese Maier-Forschungspreis dabei hilft, dieser Forschung nachzugehen?
Chiapello: Unbedingt! Wir organisieren die Konferenzen, zu denen wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von überall her einladen können. Dadurch haben wir die Möglichkeit, sehr schnell zu erfahren, was gerade in den entsprechenden Bereichen passiert. Das ist eine sehr angenehme Möglichkeit, an Informationen zu gelangen. Und zusätzlich schaffen wir dadurch ein internationales Netzwerk von Forschern zu diesen Themen. Wir werden die Ergebnisse der Tagungen natürlich auch publizieren: Zu der Konferenz zum Sozialbereich im März ist bereits ein Sonderheft zu Social Impact Bonds in einer Fachzeitschrift auf dem Weg, und wir arbeiten an einem weiteren Sonderheft in einem anderen Journal mit weiteren Tagungsbeiträgen. Ein ähnliches Vorgehen planen wir auch mit den Beiträgen der zweiten Konferenz. Möglicherweise wird es noch mehr Veröffentlichungen geben. Abgesehen davon hoffe ich, dass ich durch den Preis auch ein Buch über die Finanzialisierung des Kapitalismus schreiben werden kann. Ich mag es, in gemeinsamen Projekten zu arbeiten und durch den Forschungspreis kann ich über einen längeren Zeitraum mit den Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten.
Der Anneliese Maier Forschungspreis ist eine sehr angenehme und vertrauensvolle Art der Forschungsfinanzierung, da diese den landläufigen Prozess umkehrt. Zunächst erhält man den Preis, und erst danach muss man ein Projekt entwickeln und erläutern, wie die Mittel verwendet werden sollen. Normalerweise funktioniert das andersherum: Man muss sich mit einem ausformulierten Projektantrag bewerben, ohne zu wissen, ob er bewilligt wird. Der Forschungspreis gibt mir das Gefühl, vertrauenswürdig zu sein. Ich denke, es ist eine gute Möglichkeit, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tun zu lassen, was sie wirklich interessiert. Dadurch, dass bei dieser Art der Forschungsförderung nicht verlangt wird, geplante Ergebnisse vorab zu präsentieren, entsteht ein Raum, in dem innovative Forschung möglich wird.
Die Humboldt-Stiftung und das CGG sind dabei sehr hilfreich und Hamburg ist eine wunderschöne Stadt – nur leider ein bisschen weit weg von Zuhause.