Society Research
Wie lassen sich Wohlfahrtsstaaten vergleichen und welche Entwicklungen beobachten wir in Europa?
19 March 2018

Photo: pixelio
Dieser Artikel erschien zuerst im CGG Newsletter 1/2018.
Welche Entwicklung nimmt der Wohlfahrtsstaat in unterschiedlichen europäischen Ländern? Darüber gibt es unterschiedliche theoretische Annahmen und eine Reihe von Untersuchungen. Wenig untersucht wurde dabei bisher, wie sich soziale Rechte, also beispielsweise Ansprüche auf Arbeitslosen- oder Alterssicherung, in Bezug auf die Mitgliedschaft in einer Familie unterscheiden. Denn traditionell sind wohlfahrtsstaatliche Leistungen in Europa oft an die Familie geknüpft, und zwar auf zwei verschiedene Weisen.
Zum einen gibt es Regelungen, die für Familien zusätzliche Leistungen umfassen. Bekannte Beispiele sind die Hinterbliebenenrente, die nach dem Tod des Familienernährers den Unterhalt der Witwe absichern sollte, oder die Familienversicherung in der Krankenversicherung. Andere Regelungen fordern wiederum Familiensolidarität ein, insbesondere die Bedarfs- und Mittelprüfung, die vielen Sozialhilfeleistungen zugrunde liegen. Sie verpflichten Familienmitglieder dazu, Einkommen und Vermögen füreinander einzusetzen, bevor ein Anspruch auf staatliche Leistungen besteht. Diese Differenzen wurden bisher nicht systematisch untersucht.
Das gleiche gilt für ihre Veränderungen. Seit den neunziger Jahren haben die europäischen Staaten ihre Sozialpolitik und die Ausgestaltung sozialer Rechte zum Teil grundlegend reformiert. Diese Reformen sind stark vom offiziellen europapolitischen Leitbild der Eigenverantwortung geprägt, das insbesondere als die verstärkte Arbeitsmarktbeteiligung aller Bürger/innen im erwerbsfähigen Alter verstanden wird. Diese Ausrichtung auf das Individuum ist eine deutliche Abkehr vom traditionellen Familienmodell mit Familienernährer und Hausfrau. Andererseits wird Eigenverantwortung aber auch mit Subsidiarität gleichgesetzt, d.h. die Familie wird in die finanzielle Verantwortung für ihre Mitglieder gezogen, bevor der Staat Leistungen übernimmt. Da soziale Rechte in Europa nach wie vor weitestgehend vom Nationalstaat bestimmt werden, gibt es große Unterschiede in der Entwicklung der Familienrelevanz für soziale Rechte.
Das Forschungsprojekt „Die wohlfahrtsstaatliche Individualisierung der Social Citizens: Entwicklung und Widersprüche in Europa (INDIV)“ analysierte, wie sich soziale Rechte europäischer Wohlfahrtsstaaten in Hinblick auf Familie unterscheiden und wie sie sich verändert haben. Das mehrjährige, von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanzierte Projekt wurde von Prof. Dr. habil. Patricia Frericks (PhD) geleitet, die derzeit an der Universität Kassel arbeitet. Mitarbeiter/innen im Projekt waren Dr. Julia Höppner (jetzt Universität Kassel), Dr. Ralf Och (Universität Hamburg), Dipl.-Soz. Nicola Schwindt und als studentische Hilfskraft Hark Empen, B.A. Das Projekt endete im Sommer 2017.
Theoretische Annahmen
Ein Merkmal der Modernisierung von Gesellschaften ist die Individualisierung, worunter man die Herauslösung von Individuen aus traditionellen Bindungen wie Familie, Schicht, Klasse usw. versteht. Dieser Prozess verläuft oft widersprüchlich und wird laut der Modernisierungstheorie durch eine institutionelle Individualisierung begleitet. Darunter ist im Kontext des Projektes zu verstehen, dass die Rolle der Familie für soziale Rechte abnimmt und soziale Rechte stärker an das Individuum gebunden sind. In der Forschungsliteratur wird häufig davon ausgegangen, dass eine solche Entwicklung zu beobachten ist, sie wurde aber bislang kaum systematisch vergleichend untersucht.
Gleichzeitig werden in der Literatur drei Thesen über die Entwicklung der europäischen Wohlfahrtsstaaten diskutiert. Eine besagt, dass sich Wohlfahrtsstaaten in Typen einteilen lassen (wie den sozialdemokratischen, konservativen, liberalen oder südeuropäischen), deren grundlegende Eigenschaften durch Reformen nicht verändert werden. Eine andere These geht davon aus, dass es durch Globalisierungs- bzw. Europäisierungsprozesse zu einer wachsenden Ähnlichkeit zwischen den Wohlfahrtsstaaten kommt. Eine dritte These nimmt an, dass sich Wohlfahrtsstaaten aus verschiedenen Gründen unterschiedlich und zum Teil in sich widersprüchlich entwickeln.
Forschungsanlage
Das Projekt untersuchte die institutionelle Individualisierung für zwei zentrale wohlfahrtsstaatliche Sicherungsbereiche, die Alterssicherung und die Arbeitslosensicherung. Für beide Bereiche lassen sich in allen europäischen Wohlfahrtsstaaten zwei Sicherungsniveaus unterscheiden. (1) Das wohlfahrtsstaatliche Zielsicherungsniveau (ZSN) wird in der Regel durch beitragspflichtige Sozialversicherungen abgedeckt; (2) das Armutsvermeidungsniveau (AVN) umfasst dagegen zumeist steuerfinanzierte und bedarfs- und mittelgeprüfte Programme.
Um die Zu- oder Abnahme der Familienrelevanz in der Berechnung sozialer Rechte zu messen, wurden das ZSN und das AVN der Alters- und Arbeitslosensicherung in zehn europäischen Ländern (Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweden, Spanien, Tschechien, Ungarn) zu drei Zeitpunkten (1993, 2003, 2013) verglichen. Für diese Messung wurde im Rahmen des Projekts eine eigene Methode entwickelt, die eine Quantifizierung institutioneller Regelungen erlaubt. Die sozialen Rechte wurden für drei Arten von Familienmitgliedschaft getrennt untersucht: Partnerschaft, Generation (Eltern/Kinder) und weitere Familienmitglieder. Erst dadurch wurde ein nuancierter Vergleich der zehn Länder über die drei Zeitpunkte hinweg möglich.
Zentrale Ergebnisse
Das Forschungsprojekt hat neben einer neuen Methode zur Analyse von Institutionen detaillierte Ergebnisse dazu vorgelegt, in welchem Ausmaß Ansprüche auf wohlfahrtstaatliche Leistungen an Familie geknüpft sind und wie sich diese Verknüpfung verändert hat.
Es konnte herausgearbeitet werden, dass die Familienmitgliedschaft in der Arbeitslosen- und Alterssicherung auf beiden Sicherungsniveaus in allen unseren Ländern vorzufinden ist. Zudem konnte gezeigt werden, dass sich der Grad der Familienrelevanz bei der Berechnung von Leistungen in jedem Land zum Teil gravierend verändert hat, ohne jedoch in einer Annäherung der Wohlfahrtsstaaten zu münden.
Von einer Verringerung der Familienrelevanz, also einer Individualisierung sozialer Rechte, wie die Literatur sie erwarten ließ, zeugen Analysen des Projekts nicht; im Gegenteil ist in den meisten Fällen eher eine Stärkung der Familienrelevanz zu verzeichnen. Zu den Ergebnissen des Projekts und zu der eigens hierfür entwickelten Methode haben die Mitarbeiter/innen bereits verschiedene Beiträge in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Weitere werden folgen.
Bisherige Veröffentlichungen
Frericks, Patricia; Höppner, Julia (2017): What about family in European old-age security systems? The complexity of institutional individualisation. In: Ageing and Society. First view article, published online 28 December 2016. DOI: 10.1017/S0144686X16001392.
Frericks, Patricia; Höppner, Julia; Och, Ralf (2017): The Difficulty of Measuring Institutions. A Methodological Approach to the Comparative Analysis of Institutions. In: Social Indicators Research. First view article, pubished online 23 May 2017. DOI: 10.1007/s11205-017-1638-9.
Frericks, Patricia; Höppner, Julia; Och, Ralf (2017): Wie misst man wohlfahrtsstaatliche Institutionen? Ein innovativer Ansatz zur Quantifizierung qualitativer Daten. In: Stephan Lessenich (Hg.): Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016. Online verfügbar unter http://www.publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2016/article/view/374.
Frericks, Patricia; Höppner, Julia; Och, Ralf (2016): Institutional Individualisation? The Family in European Social Security Institutions. In: Journal of Social Policy 45 (4), S. 747–764. DOI: 10.1017/S0047279416000404.
Weitere Informationen über das Projekt, seine Ziele, Methoden und Forschungsergebnisse finden Sie auf der Homepage des Projekts auf der CGG Website.