Society Research
Zu welchen Themen führst du deine Forschung durch?
Aktuell forsche ich im Rahmen meiner Habilitation zum Thema „Widerständige Praktiken im Mittelmeer“, mit einem Fokus auf die Menschen, die auf dem Mittelmeer Seenotrettung von flüchtenden Menschen betreiben.
Ganz konkret geht es aktuell um „Naming-Praktiken“, also die Frage, wie werden welche Akteure von wem in welchen Situationen und mit welcher Begründung bezeichnet ? Mich interessiert z.B., wie bestimmte Begrifflichkeiten ausgewählt wurden, um die vor dem Ertrinken geretteten Personen zu beschreiben. Wann reden NGOs von Gäst:innen oder Patient:innen, wann reden sie von fliehenden Personen oder Menschen, oder nutzen sie andere Begriffe? Ich finde total spannend, dass zum Beispiel der Begriff Gäste nur für Leute genutzt wird, die gesucht, gefunden und gerettet wurden und sich aktuell auf einem der Schiffe der Organisation befinden. Da sind Schiffe zum Einsatz gekommen, da sind Westen zum Einsatz gekommen, da sind bestimmte soziale Praktiken zum Einsatz gekommen. Solche Begriffe sind eben nicht nur Worte, sondern es steckt auch ganz viel Anderes dahinter, ganz viele praktische und materielle Hintergründe.
Ich forsche vor allen Dingen mit qualitativen Methoden, zum Beispiel werte ich im Moment für eine Diskursanalyse die Newsletter und Newsbereiche von den Organisationen aus, die auf dem Mittelmeer aktiv sind. Dabei betrachte ich sowohl die staatlichen und europäischen Akteure, wie Frontex oder die italienische Küstenwache, aber auch die beteiligten Hilfsorganisationen. In einem nächsten Schritt werden Interviews, u.a. mit den Pressesprechern der Institutionen, durchgeführt.
Im nächsten Sommer plane ich eine teilnehmende Forschung, in der ich mir die „Übergabesituation“ für die Schiffe der Hilfsorganisation anschaue. Die Organisationen haben eine drei- bis fünftägige Übergabezeit, in der der neuen Crew ihr Posten und ihre Aufgaben durch die ausscheidende Besatzung erklärt werden. Ich möchte mir im Detail ansehen, wie diese Informationsweitergabe, das „Doing Knowledge“, passiert.
Ich war selbst lange Jahre in der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) organisiert und kenne die Abläufe der und Diskurse um die „konventionelle“ Seenotrettung gut. Diese Erfahrung kann ich als Kontrastfolie verwenden. Der Vergleich macht die Kriminalisierungsstrategien und Delegitimierung, der die aktivistische Seenotrettung auf dem Mittelmeer ausgesetzt ist, besonders deutlich: So wurde noch nie ein Schiff der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) in einem Hafen festgesetzt, mit der Anschuldigung, dass es zu viele Rettungswesten an Bord hätte.
Da es sich bei den Aktivitäten der auf dem Mittelmeer aktiven NGOs auch um widerständige Praktiken und widerständiges Handeln aus der Zivilgesellschaft handelt, wird der Bogen zu meiner Dissertation geschlossen: Dort habe ich Projekte bzw. Orte untersucht in denen Bürger:innen Energiegewinnung unabhängig von den klassischen großen Konzernen betreiben, sogenannte Community Energy Gruppen. Die Gruppen versuchen, ebenso wie die NGOs in der Seenotrettung etwas anders zu machen als die Dominanzgesellschaft das bisher macht. Egal ob das jetzt Konzerne sind oder die Politik ist.
Obwohl das Thema Umwelt im Rahmen meiner Habilitation nicht mehr mein Fokus ist, gibt es Berührungspunkte mit meinem aktuellen Thema, z.B. weil viele von den Akteuren wie den Kapitän:innen oder der Crew in der zivilen Seenotrettung ursprünglich von Umweltorganisationen kommen. Greenpeace oder Sea Shepherd sind bzw. waren die großen widerständigen Organisationen auf dem Wasser und können neben einem umfangreichen Erfahrungsschatz zu Aktivismus auf dem Wasser auch die materiellen Ressourcen, wie Zugang zu Werften oder in politischen Prozessen erfahrenem juristischen Beistand, bereitstellen. Viele der Aktivist:innen betrachten ihr Engagement im Umweltbereich und in der zivilen Seenotrettung als miteinander verbunden, auch da es ganz viel um globale Gerechtigkeit geht und der Klimawandel als Fluchtursache immer relevanter wird.
Mit welchem Verkehrsmittel kommst du zur Arbeit?
Wenn ich nicht im Home Office bin, nehme ich die öffentlichen Verkehrsmittel: Ich gehe zu Fuß zum Bahnhof in Lüneburg, was sehr schön ist, weil ich in der Altstadt wohne und über die Schleuse gehen kann. Dann warte ich auf den fast immer zu spät abfahrenden Metronom (=Regionalzug). Der Metronom ist sehr bequem, ich kann die Zeit sehr gut zum Arbeiten nutzen.
Was gehört für dich zu einem gelungenen Tag?
Ein glückliches Kind! Ein gut gelauntes Kind am Ende des Tages macht auf jeden Fall den Tag besser. Dazu braucht es meistens halbwegs annehmbares Wetter, um noch auf den Spielplatz gehen zu können. Das freut das Kind, ist aber auch für mich super: am Spielplatz trifft man als Elternteil mal wieder andere Erwachsene und kann ein bisschen quatschen, ein bisschen unverbindlichen Smalltalk führen. Das ist etwas, das ich nach den Lockdowns besonders genieße: Das Treffen mit Kolleg:innen im Büro, mit Studierenden nach dem Seminar oder auch diese Zufallsbekanntschaften mit Leuten sind Glücksmomente.
Zu einem gelungenen Arbeitstag gehört natürlich noch das Gefühl, dass die Arbeit zu etwas nütze war und dass man weitergekommen ist mit seinen Aufgaben. Es gibt Tage, an denen habe ich zehn Texte gelesen und keiner davon war der, den ich gesucht habe, und manchmal lese ich einen Text, der mir viele neue Inspirationen und Gedanken zum Weiterschreiben gibt. Dieses Kippen vom Lesen zum Denken zum Schreiben und dem Bewusstsein, etwas zu sagen zu haben, empfinde ich immer als die schönsten Arbeitsmomente.
Wie bist du zum Thema Nachhaltigkeit gekommen?
Nach dem Abitur habe ich ein Freiwilliges Ökologisches Jahr gemacht und im Anschluss ein Biologiestudium angefangen. Dabei habe ich gemerkt, dass mich der Umweltschutz tatsächlich mehr interessiert als die Umwelt. Nach einem Semester war mir schon klar, dass ich etwas über Gesellschaft lernen muss und nicht nur über Natur, um effektiven Umweltschutz zu betreiben. Dann habe ich das Fach gewechselt, und neben vielen anderen spannenden Themen und Möglichkeiten, die ein Ethnologie- und Soziologiestudium bietet, habe ich die Thematik erstmal etwas aus dem Blick verloren. Aber nach meiner Magister-Soziologieprüfung bei Anita Engels habe ich meine Promotion im Bereich der sozialwissenschaftlichen Klimaforschung begonnen und dadurch mein ursprüngliches Studien-Interesse wieder aufgenommen. In der Promotion habe ich drei Projekte untersucht, zwei in Deutschland und eins Schottland, in denen Bürger:innen beruhend auf einer Bürgerinitiative Energiegewinnung betreiben.
Welches Forschungsinteresse steht nicht in deinem Lebenslauf?
Es gibt so viele spannende Sachen - ich kann mich nicht nur für eine Sache begeistern!
Einen Aspekt meiner Forschung im Rahmen der Promotion konnte ich leider nicht mehr in die Dissertationsschrift aufnehmen, ein klassisches „Kill your darlings“-Dilemma: In dem Bürgerenergieprojekt in Schottlandwurde ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager von der Gemeinde zur Energiegewinnung umgenutzt, etwa gleichzeitig zur Umnutzung der Bunker aus dem zweiten Weltkrieg in Hamburg Wilhelmsburg und Altona als Energiespeicher und -erzeuger. Ich finde es spannend, dass gerade diese Orte bzw. Gebäude aus dem Zweiten Weltkrieg, der damals die große Gefahr war, jetzt nach langer Brache transformiert wurden, um auf eine neue Gefahr in Form des Klimawandels zu reagieren. Damit wird diesen Orten eine neue Bedeutung in Bezug auf ein neues Risiko gegeben. Das finde ich total spannend und würde gerne darüber schreiben.
Daran schließt sich mein Interesse und meine Begeisterung für Stadtforschung an, die mich auch schon im Studium sehr bewegt hat. In der Lehre mache ich Stadtforschung regelmäßig zum Thema, und freue mich, dass das Thema – insbesondere unter dem Aspekt der Gentrifizierung – auch für die Studierenden heute noch sehr mitreißend und aktuell ist.
Darüber hinaus, und das fügt sich in meine Forschung zur Seenotrettung ein, möchte ich mich intensiver mit dem Thema Tod und Sterben aus Sicht der Soziologie beschäftigen, der sogenannten Thanatosoziologie. In der Lehre habe ich bereits dazu etwas mit den Studierenden gemacht, die sehr engagiert und interessiert an dem Thema waren.
Zu guter Letzt – und hierzu plane ich einen Forschungsantrag einzureichen – möchte ich mir das Thema Freundschaft näher aus einer soziologischen Perspektive ansehen. Es gibt zwar schon einige Forschung über Freundschaften, insb. in bestimmen Lebensphasen, aber es hat noch niemand im Detail erforscht wie eigentlich der Prozess des sich Kennenlernens verläuft: Manchmal ist ja sofort eine Freundschaft da, manchmal entsteht sie einfach so über die Zeit. Anders als in Intimbeziehungen hat man mit Freund:innen so gut wie nie ein sogenanntes „Define-the-relationship“-Gespräch: „Also sind wir jetzt eigentlich noch Bekannte oder würdest du sagen wir sind schon Freunde" oder "Bin ich eine deiner besten Freundinnen?" – das würde man nicht so ausformulieren. Diese kleinen Unterschiede finde ich faszinierend. Daher würde ich mir unter anderem ganz konkret die Wahrnehmungen der Parteien in Freundschaften ansehen.
Wie sieht eine glückliche Kindheit in 2050 aus?
Ich hoffe, 2050 gibt es noch eine glückliche Kindheit! Ich habe mal einen Kommentar gelesen, den fand ich extrem gut. Da ging es um den Klimawandel und die Abschottungspolitik Europas, und ab welchem Alter Kinder, die jetzt oder später in Europa geboren werden, die Bürde des Wissens darüber haben werden, dass man hier in Europa nur eine glückliche Kindheit haben kann, weil ein zunehmender Prozentsatz von Kindern auf der Welt keine glückliche Kindheit oder keine Kindheit überhaupt hat. Dieses Wissen lässt sich immer schwerer verheimlichen. Bei der Ausgangsfrage stellt sich also auch immer die Frage: von wo auf der Welt sprechen wir, wo findet diese glückliche Kindheit statt. Ich wünsche natürlich allen Kindern eine glückliche Kindheit, aber ich fürchte, die Realität wird sein, dass es zunehmend weniger Kinder gibt, die eine glückliche Kindheit haben.
Was fällt dir zum Stichwort "emissionsfreies Hamburg" ein?
Der Hafen! Hamburg hat sehr viel Industrie, von daher ist klar, dass massive technische Änderungen notwendig sind, um emissionsfrei zu werden. Wahrscheinlich wäre es eine ganze andere Stadt, als ich sie jetzt vor Augen habe, da diese Veränderungen infrastrukturell und materiell massiv Auswirkungen haben würden. Ich hoffe, es wäre ein schöneres Hamburg - natürlich hat man immer diese hübsche Vorstellung von mehr Grünflächen, weniger und leiseren Autos und lächelnden Radfahrer:innen… Ich wage gar nicht, Prognosen zu erstellen, aber ich bin gespannt darauf!
Wann hast du aufgehört zu meinen, dass du nachhaltiger wirst, oder glaubst du es noch?
Als ich als Teenager angefangen habe, mich für dieses Thema zu interessieren, habe ich ungefähr zur gleichen Zeit das Zitat von Adorno "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen" gehört. Dadurch war mir tatsächlich sehr früh klar, dass die Möglichkeiten, die ich habe, ein richtiges Leben zu leben, einfach nie gegeben sind, da das, was ich tue, immer wieder pervertiert wird von dem System, in dem es stattfindet. Ich finde das nach wie vor einen wichtigen Satz, der extrem viel erklären kann. Ich muss, kann und sollte natürlich handeln, aber mein Handeln alleine findet eben nicht unabhängig von dem System statt, in dem es passiert.
Es ist zwar immer wieder frustrierend zu merken, dass man an dem System nichts ändert, aber sich selbst diese unendliche Verantwortung aufzuladen, das ist weder möglich noch zielführend. Ein gutes Beispiel ist die Selbstanrufung "Ich darf kein Plastik verbrauchen!". Solange wie wir ein System haben, in dem die Unternehmen dafür belohnt werden, dass sie Sachen in Plastik verpacken, kann ich nicht diese Verantwortung tragen. Ich kann es nicht richtigmachen. Ich kann nicht plastikfrei leben, in einer Welt, die auf Plastik basiert, das geht nicht.
Diese Erkenntnis bedeutet auch eine gewisse Entlastung. Natürlich muss ich mir selbst gegenüber Verantwortung ablegen wie ich konsumiere – ich habe das Glück, ein Einkommen zu haben, das mir erlaubt, dies möglichst nachhaltig zu tun – oder wie ich mich verhalte, ich möchte z.B. aus Nachhaltigkeitsgründen nach wie vor kein Auto haben und lehne Flugreise weitestgehend ab, aber ich bin mir bewusst, dass dies ohne politische Arbeit und Veränderungen nicht ausreicht. Die Wissenschaft hat dabei meiner Ansicht nach eine besondere Rolle, quasi eine „Watchdog“-Funktion: Wissenschaftler:innen schauen hin, können Missstände aufzeigen, aber auch Machtstrukturen in Politik und Wirtschaft beschreiben, die erklären, warum z.B. die Notwendigkeit von Umwelt- und Klimaschutz hinreichend wissenschaftlich belegt ist und trotzdem kein politisches Handeln folgt.
Das ist auch das Privileg meines Jobs als Wissenschaftlerin: ich muss nicht nur den Interessen eines Unternehmens gerecht werden, sondern darf Themen, die mir auch persönlich wichtig sind bearbeiten.
Gibt es noch etwas, das du zum bisher Gefragten ergänzen möchtest?
Ich möchte noch ein paar Worte zum Thema Lehre sagen, da mir das sehr viel Spaß bringt. Daher bin ich im Ausschuss Qualitätszirkel Lehre und im Ausschuss für Lehre und Studium (LuSt-Ausschuss) der Fakultät aktiv. Ich finde es wichtig mich für gute Lehre einzusetzen, vor allem da der Bereich der qualitativen Methodenausbildung, den ich besetze, sehr kurz kommt und sich Studierende häufig wünschen, dass in diesem Bereich mehr angeboten wird. Ich biete meinen Studierenden z.B. auch an, den Forschungsbericht für das zweisemestrige Forschungsseminar als Podcast aufzunehmen, in dem verschiedene Stimmen und Blickwinkel zu Wort kommen können.
Zum Thema Seenotrettung möchte ich noch ergänzen, dass ich denke, dass das Thema Wassersicherheit in den nächsten Jahren in Deutschland ein großes Thema werden wird und mehr Aktive in Wasserrettungsorganisationen auch hier dringend gebraucht werden. Einmal, weil während der COVID-19 Pandemie viele Kinder nicht schwimmen gelernt haben und die Schwimmkurse lange Wartelisten haben, aber auch weil für viele Leute, die erst vor kurzem aus Krisengebieten nach Deutschland gekommen sind oder in Zukunft in Deutschland leben werden, das Schwimmenlernen keine Priorität oder Option war. Die Zahl von Menschen in Nordeuropa, die nicht schwimmen kann bzw. von Menschen, die nicht wassersicher sind, wird einfach immer größer. Die Zahl der Ertrinkenden steigt auch in den Großstädten wie Hamburg und Berlin.