Das Deutsche und Europäische Verbraucherleitbild
Das Deutsche und Europäische Verbraucherleitbild im Unionsrechtsvergleich
Der "normal informierte und angemessen aufmerksame und verständige Durchschnittsverbraucher" stellt einen zentralen Bezugspunkt für die rechtliche und politische Gestaltung des Verbraucherschutzes dar. Dabei werden die Anforderungen an den sogenannten Durchschnittsverbraucher von den mitgliedsstaatlichen Gerichten teils unterschiedlich interpretiert.
Der nachfolgende Beitrag widmet sich der kritischen Analyse und Weiterentwicklung dieses Leitbildes und untersucht dessen Auswirkungen auf Gesetzgebung und Rechtsprechung in der Europäischen Union. Hierbei werden die Voraussetzungen der Fähigkeiten, die im alltäglichen Konsumgeschäft relevant werden, untersucht. Ziel ist es, sowohl die Unterschiede und Gemeinsamkeiten innerhalb der Union herauszuarbeiten, als auch die Vielfalt der Verbraucherrealitäten und die Herausforderungen moderner Märkte zu berücksichtigen.
EuGH
Anforderungen | Nicht vorausgesetzt | |
Verstehen | Verbraucher müssen Zinssätze sowie die Rechtfertigung der Kreditkosten verstehen, wenn Höhe, Berechnungsmethode und Fälligkeit angegeben sind.[1] Er muss wirtschaftliche Risiken und Folgen für sein Vermögen bei Kreditabschluss abschätzen können.[2] | Das Unionsrecht erwartet nicht, dass das Wort „Lifting“ in einer Kosmetikcreme zwingend vom Verbraucher verstanden wird. Hierbei kommt es auf die Umstände im Mitgliedstand an.[3] |
Der Verbraucher kann beim Fahrzeugverkauf Preise vergleichen und kann somit die Vorteile und Nachteile verschiedener Angebote verstehen.[4] | Der Verbraucher macht sich keine unrealistischen Vorstellungen: Unter „dermatologisch getestet“ versteht er, dass das Produkt für die Haut unschädlich ist, aber nicht, dass eine Wirkung bestätigt wurde.[5] | |
Der aufmerksame Durchschnittsverbraucher liest Produktinformationen nicht nur flüchtig und oberflächlich, sondern prüft die Aussagen auch kritisch.[6] | Der Verbraucher ist nicht fähig, Manipulationen zu erkennen, wenn z.B. optionale Versicherungskosten nicht eindeutig als fakultativ ausgewiesen werden.[7] | |
Recherchieren | Beim Fahrzeugkauf ist der Verbraucher im Hinblick auf die große finanzielle Belastung in der Lage, Preise zu vergleichen und sich zusätzlich über eventuelles Zubehör beim Verkäufer zu informieren.[8] | Der Verbraucher muss die Funktionsweise eines variablen Kreditzinssatz nicht selbst recherchieren, sowie den Inhalt der Bereitstellungsprovision ermitteln.[9] Bei Fremdwährungskrediten muss der Verbraucher das Wechselkursrisiko und das Risiko der schweren Abwertung der Fremdwährung nicht selbst ermitteln.[10] |
Der Verbraucher muss bei Vorfälligkeitsentschädigungen aus einem Maximalbetrag der Entschädigung ableiten können, wie hoch das Risiko für ihn ist.[11] | Es müssen alle Tatsachen mitgeteilt werden und Hauptelemente der Berechnung (der Gesamtkosten eines Kredits) müssen zugänglich sein.[12] | |
Vorwissen | Der Verbraucher wählt das Produkt wohl aber mit Hilfe der Produktinformation/ Etiketten nach seinen Bedürfnissen aus, und hat auch immer mehr Ansprüche, seine Bedürfnisse zu erfüllen.[13] | Er hat keinerlei spezifische Kenntnisse oder Ansprüche, verlässt sich also mehrheitlich auf das Etikett von Lebensmitteln.[14] |
Der Verbraucher muss grundsätzlich wissen, was ein Zinssatz ist und dass er bei Krediten erhoben wird.[15] | Er muss nicht die Umrechnungen in Fremdwährungen und das Verfahren dazu verstehen. Also keine komplizierten Formulierungen verstehen. [16] | |
Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass der Verbraucher weiß, unter welchen Umständen sich eine SIM-Karte automatisch mit dem Internet verbindet und welche Kosten anfallen. Er muss den Dients auch nicht abschalten können.[17] | ||
Rechnen | Es braucht bei einer Risikoprovision die Angabe der Berechnungsmethode, die der Verbraucher dann unter Umständen selbst nachrechnen muss und die Angabe der Dienstleistungen, die als Gegenleistung erbracht werden.[18] | |
Bei Vorfälligkeitsentschädigungen muss Methode zur Berechnung für den Durchschnittsverbraucher leicht verständlich angegeben werden.[19] Der Verbraucher muss das dann selbst nachrechnen können. Es reicht nicht aus, wenn auf die von einem nationalen Gericht vorgeschriebenen finanzmathematischen Rahmenbedingungen verwiesen wird.[20] | ||
Lesen | Die Richtlinie 79/112/EWG setzt für den Durchschnittsverbraucher voraus, dass er Produktinformationen lesen kann und seiner Sprache mächtig ist (damit nimmt man bewusst in Kauf, Personengruppen auszuschließen).[21] | Er muss zwar grammatikalisch richtige Vertragsklauseln verstehen können, aber es die inhaltliche Schlüssigkeit muss sich aus dem Text ergeben, nicht durch zusätzliche Anstrengungen des Verbrauchers[22] |
Spanien
Anforderungen | Nicht vorausgesetzt | |
Verstehen | Der Verbraucher muss sich Produktinformationen (in Bezug auf das Mars-Urteil) auch insoweit aneignen können, dass er ohne großen Aufwand erkennt, welche Informationen für den Inhalt des Produkts relevant sind.[1] | Art. 15 Ley 5/2019: Verpflichtende Beratung durch einen Notar bei Wohnimmobilienkrediten. Hier wird nicht Detailverständnis des Vertrages vorausgesetzt. |
Der Verbraucher muss verstehen, was ein Mindestzinssatz ist, wenn der Zinssatz als solcher ausgewiesen ist und auch erklärt wird, was ein Mindestzinssatz bedeutet.[2] Er muss die wirtschaftlichen Konsequenzen verstehen.[3] |
Der Verbraucher muss vorvertragliche Informationen erhalten und lesen, er muss die missbräuchlichen Klauseln nicht zwingend erkennen.[4] | |
Recherchieren | Die Verjährung beginnt erst, wenn das Gericht die Rechtswidrigkeit einer Klausel festgestellt hat. Die Verjährung beginnt nicht dadurch, dass Verbraucher die Rechtswidrigkeit der Klausel hätte selbst prüfen können/müssen.[5] | |
Vorwissen | Der Verbraucher muss wissen, was ein Zinssatz ist und, dass man ihn bei Kreditaufnahme zahlen muss.[6] | Verbraucher muss den Mechanismus von Revolving-Kreditkarten nicht von vorne herein kennen.[7] |
Wenn der Verbraucher selbst Klauseln aushandelt, dann muss wissen, dass er die Konsequenzen dieser Verhandlungen trägt[8] (bei quasi gleichberechtigter Verhandlung[9]). |
Nach Art. 3.2 TR-LGDCU hat vulnerabler Verbraucher ein schlechteres Vorverständnis durch sprachliche Barrieren, Altersunterschiede oder körperliche und geistige Einschränkungen.[10] |
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Der durchschnittliche, nicht vulnerable Verbraucher ist nicht in einer schlechten Verteidigungsposition und ist dem Vertragspartner nicht ausgeliefert.[11] | ||
Rechnen | Der Tribunal Supremo meint, dass der Verbraucher sich selbst informieren kann und sich selbst Berechnungsmethoden eines variablen Zinssatzes erschließen kann.[12] |
Verbraucher müssen nach Gerichten unterer Instanzen nicht selbst die Berechnungsmethoden für variable Zinssätze ermitteln und anwenden. Er muss nicht die wirtschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen eines variablen Zinssatzes verstehen.[13] |
Der Verbraucher braucht keine fachspezifischen finanzmathematischen Vorkenntnisse oder muss wirtschaftliche Einflüsse mit technischer Genauigkeit berechnen können, um eine Mindestzinsklausel zu verstehen.[14] | ||
Lesen |
Die EuGH-Rechtsprechung wird so interpretiert, dass der Verbraucher die Produktinformationen aufmerksam lesen muss.[15] Es ist grundsätzlich erforderlich, die Grundbegriffe zu verstehen.[16] |
Frankreich
Anforderungen | Nicht Vorausgesetzt | |
Verstehen | Wenn der Verbraucher einen Mietwagen mietet, dann muss er in der Lag sein, den Reservierungsbon zu lesen und dort die Angaben über die Kosten nachzuvollziehen. Hieran muss er beurteilen können, ob das Angebot für ihn fair erscheint.[2] |
Der Verbraucher muss den Finanzierungsmechanismus und die exakten Risiken eines Fremdwährungskredits nicht verstehen können.[3] Dies ist nicht Teil seiner Verantwortung und kann nicht von ihm erwartet werden.[4] |
Dem Verbraucher müssen nicht zwingend Irreführungen und verschleierte Kosten bei einem Kredit selbständig auffallen.[1]. Wenn der Verbraucher ein Auto mietet, muss er nicht von sich aus verstehen, dass Versicherungskosten fakultativ sind.[5] |
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Beim Aktienkauf muss der Verbraucher nicht das spezifische Risiko der Anlage kennen. Ein Prospekt, der 90 Seiten lang detailliert die Anlage beschreibt, informiert den Verbraucher nicht überschaubar.[6] | ||
Recherchieren |
Der Verbraucher muss sich ein Mindestwissen anreichern, um dieses mit den gelieferten Informationen des Vertragspartners abzugleichen.[7] |
Der Verbraucher muss bei Fremdwährungskrediten kein Wechselkursrisiko selbst recherchieren.[9] |
Vorwissen | Ein Minimum an Kenntnissen kann vorausgesetzt werden (kommt dann auf den Einzelfall an).[10] Bei Rabattkäufen muss er sich der Existenz eines Referenzpreises bewusst sein.[11] |
Es braucht kein Detailwissen über konkret geliefertes Produkt, diese Informationen muss das Unternehmen bereitstellen (Computersoftware[12] und Finanzierung/ Wechselkursrisiko bei Fremdwährungskrediten[13]). |
Der Durchschnittsverbraucher ist nicht zwingend schwach und kennt sich im Alltagsleben grundsätzlich aus.[14] Er ist nicht naiv und fällt lässt sich nicht leichtfertig täuschen/macht sich unrealistische Vorstellungen.[15] |
Insgesamt kein Expertenwissen und auch keine Erfahrungen vorausgesetzt.[16] | |
Es wird ein Bewusstsein für Marktstandards vorausgesetzt (vorinstallierte Software beim Computerkauf[17] und grundlegendes Verständnis von Kreditverträgen[18]). | ||
Rechnen | Bei Vorfälligkeitsentschädigungen müssen die Bedingungen und die Berechnungsmethode angegeben werden (gesetzliche Vorgabe). So muss der Verbraucher die Kosten aber auch selbst berechnen.[19] | Preis und die Nutzungsmöglichkeiten von Computersoftware müssen einzeln aufgespalten werden und umfassend dargelegt werden (dies muss der Verbraucher nicht selbst recherchieren oder für sich durchrechnen).[20] |
Die Informationen zur Berechnung von Kosten für den Kredit müssen Ihnen im Vertragsformular ausführlich angegeben werden.[21] So muss der Verbraucher nicht die Kosten einer Restschuldversicherung[22] oder die Höhe der Zinsforderungen im Falle der Kündigung des Kredits ohne Methode berechnen können.[23] | ||
Bei Kreditverträgen braucht es ein geschriebenes Angebot[24], was der Verbraucher vor allem lesen können muss. Sonst könnte er den Vertrag nicht abschließen. |
Deutschland
Anforderungen | Nicht vorausgesetzt | |
Verstehen |
Der Verbraucher muss das Wort „Cotton“ ohne Weiteres als Baumwolle verstehen[1] |
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Recherchieren |
Bei Internet-Werbung muss die gesamte Internetseite als in sich geschlossene Darstellung aufgefasst und zusammengehörig wahrgenommen werden[2] Vorausgesetzte Fähigkeiten: - Preisüberblick im Internet verschaffen können[3] - Prüfung von Vergleichsangeboten vor Kauf eines Gebrauchtwagens[4] - Erfragen des Namens eines anrufenden Mitarbeiters, wenn er diese Information als weitere Entscheidungshilfe benötigt[5] - wer an zusätzlichen Informationen über ein bestimmtes Bier interessiert ist, weiß, dass er nähere Angaben auch auf dem Rück-Etikett findet[6] |
Erhält der Verbraucher auf einer Internet-Seite alle aus seiner Sicht erforderlichen Angaben, hat er keine Veranlassung, noch weitere Seiten des betreffenden Internet-Auftritts auf weitere brauchbare Informationen zu untersuchen[7] |
Vorwissen | Erforderlich ist Kenntnis darüber, dass Klimaneutralität in der Praxis sowohl durch Vermeidung von Emissionen als auch durch Kompensationsmaßnahmen erreicht werden kann[8] |
Aus der Angabe eines Klima-Partners kann keine Kenntnis über Klimakompensation angenommen werden[9] |
Verbraucher müssen nicht wissen, wann eine Forderung „unbestritten“ ist[10] |
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Rechnen | Berechnung und Vergleichen von Grundpreisen verschiedener Packungsinhalte[11] |
Zum Preisvergleich muss der Grundpreis für das in Kaffeekapseln enthaltene Kaffeepulver angegeben sein.[1] |
Lesen | Vor dem Kauf von langlebigen und kostspieligen Gütern befasst sich der Verbraucher eingehend und nicht nur flüchtig mit der Werbung, sodass auch kleine Hinweise am Ende des Textes erfasst werden müssen[13] | Ein Hinweis, der nur bei aufmerksamem gezieltem Studium lesbar ist und von anderen Bezeichnungen farblich und räumlich abgegrenzt ist, muss für den Verbraucher nicht wahrnehmbar sein[16] |
Widerrufsinformationen sind auch ohne optische Hervorhebung für einen Verbraucher „klar und verständlich“ gemäß Art. 247 § 6 I EGBGB[14] | ||
ein kleiner Hinweis in der Fußzeile einer Werbeanzeige ist ausreichend, wenn er leicht lesbar ist und sofort ins Auge fällt[15] |
Auswertung
Auswertung zum Verbraucherleitbild
Das Verbraucherleitbild wird insbesondere in Fällen relevant, in denen rechtliche Verhaltensweisen gegenüber Verbrauchern zu bewerten sind. Dies erfolgt am Maßstab entwickelter Wertungen, die bei der Anwendung von verbraucherrechtlichen Bestimmungen von Bedeutung sind.[1] Im Folgenden sollen diese Wertungsmaßstäbe anhand
der Rechtsprechung des Europäische Gerichtshof (EuGH), sowie der Rechtsprechung aus den EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Spanien verglichen und ihre Vereinbarkeit mit der Rechtsprechungslinie des EuGH näher betrachtet werden. Es erfolgt eine Gegenüberstellung anhand der Anforderungen im Bereich verschiedener kognitiver Fähigkeiten eines Verbrauchers. Den Ausgangspunkt bildet in Anknüpfung an die Rechtsprechung des EuGH ein durchschnittlicher Verbraucher, der als normal informiert, angemessen aufmerksam und verständig gilt.[2]
1. Verstehen
Der EuGH fordert in Bezug auf das Verständniss eines Durchschnittsverbrauchers, dass dieser Produktinformationen nicht nur flüchtig und oberflächlich liest, sondern die Aussagen auch kritisch prüft.[3] Auch nach der spanischen Rechtsprechung muss sich der Verbraucher Produktinformationen aneignen können, sodass er ohne großen Aufwand erkennt, welche Informationen für den Inhalt des Produkts relevant sind.[4] Als für den Verbraucher dabei nicht mehr überschaubar gelten, nach der französischen Rechtsprechung, 90 Seiten lange Informationen.[5]
Nicht erwartet werden kann von einem durchschnittlichen Verbraucher nach dem EuGH, dass er das Wort „Lifting“ in einer Kosmetikcreme versteht[6], oder das er erkennt, dass „dermatologisch getestet“ lediglich irgendeine Wirkung bestätigt[7]. Dagegen muss ein Verbraucher nach der Rechtsprechung des BGH das Wort „Cotton“ ohne Weiteres als Baumwolle verstehen.[8]
Im Bereich der Kreditvergabe muss der Verbraucher nach dem EuGH Zinssätze sowie die Rechtfertigung der Kreditkosten verstehen, wenn Berechnungsmethode und Fälligkeit angegeben sind.[9] Außerdem muss er wirtschaftliche Risiken und Folgen für sein Vermögen bei Kreditabschluss abschätzen können.[10] Auch in der spanischen Rechtsprechung wird verlangt, dass der Verbraucher versteht, was ein Mindestzinssatz ist, wenn er als solcher ausgewiesen ist und seine Bedeutung erklärt wird.[11] Ebenso muss er die wirtschaftlichen Konsequenzen erkennen können.[12] Die Rechtsprechung des EuGH und des spanischen Gerichts liegen hier somit auf einer Linie. Detailverständnis von spezielleren Kreditverträgen werden in der spanischen Rechtsprechung bei Wohnimmobilienkrediten[13] und nach der französischen Rechtsprechung bei Fremdwährungskrediten[14] nicht verlangt. Irreführungen und verschleierte Kosten bei einem Kredit müssen nach französischer Rechtsprechung dem Verbraucher nicht selbstständig auffallen.[15] Ebenso wenig muss der Verbraucher, wenn er sich ein Auto mietet, verstehen, dass die Versicherungskosten fakultativ sind.[16] Auch nach dem EuGH muss der Verbraucher nicht dazu fähig sein, Manipulationen zu erkennen, wenn beispielsweise optionale Versicherungskosten nicht eindeutig als fakultativ ausgewiesen werden.[17]
Vorausgesetzt werden kann von einem Verbraucher jedoch, dass dieser bei einem Fahrzeugverkauf Preise vergleicht und die Vor- und Nachteile verschiedener Angebote versteht.[18] Ebenso hat das französische Gericht entschieden, dass ein Verbraucher, der einen Mietwagen mietet, in der Lage sein muss den Reservierungsbon zu lesen und die dortigen Angaben über die Kosten nachzuvollziehen. Er muss anhand dessen beurteilen können, ob das Angebot für ihn fair erscheint.[19]
2. Recherchieren
Nach der Rechtsprechung des EuGH wird von einem Verbraucher erwartet, dass dieser bei einem Fahrzeugkauf im Hinblick auf die große finanzielle Belastung in der Lage ist, Preise zu vergleichen und sich über eventuelles Zubehör beim Verkäufer zu informieren.[20] Auch der BGH geht davon aus, dass der Verbraucher sich einen Preisüberblick im Internet verschaffen kann,[21] und gegebenenfalls Vergleichsangebote vor einem Kauf prüft[22].
Nach einer früheren französischen Rechtsprechung reichten die Anforderungen an den Verbraucher sogar so weit, dass dieser sich ein Mindestwissen aneignen mussten, um dieses sodann mit den gelieferten Informationen des Vertragspartners abzugleichen.[23] Das Cour de Cassation hat diese Rechtsprechung jedoch teilweise aufgehoben und verlangt nun lediglich, dass der Verbraucher sich seine Kenntnisse anhand der gelieferten Informationen des Vertragspartners aneignet.[24] Auch der BGH entschied, dass der Verbraucher in der Lage ist, seine Kenntnisse über ein bestimmtes Bier anhand des Rück-Etiketts zu erweitern und auch weiß, dass er nähere Angaben dort findet.[25] Im Bereich der Internet-Werbung muss der Verbraucher nach dem BGH bei der Produktrecherche die gesamte Internetseite als eine in sich geschlossene Darstellung auffassen und als zusammengehörig wahrnehmen.[26] Anders verhält es sich, wenn der Verbraucher auf einer Internetseite alle aus seiner Sicht erforderlichen Angaben erhält und er somit keine Veranlassung hat, noch weitere Seiten des betreffenden Internet-Auftritts auf weitere brauchbare Informationen zu untersuchen.[27]
Im Bereich der Kreditvergabe muss der Verbraucher nach der Rechtsprechung des EuGH bei Vorfälligkeitsentschädigungen aus einem Maximalbetrag der Entschädigung ableiten können, wie hoch das Risiko für ihn ist.[28] Die Funktionsweise eines variablen Kreditzinssatzes muss er dagegen nicht selbst recherchieren.[29] Bei einem Fremdwährungskredit muss der Verbraucher das Wechselkursrisiko und das Risiko der schweren Abwertung der Fremdwährung auch nicht selbst ermitteln.[30] Dem folgte auch die französische Rechtsprechung.[31]
3. Vorwissen
Im Bereich des erwarteten Vorwissens eines Verbrauchers kommt es jeweils auf das spezifische Gebiet an. So entschied der EuGH, dass sich der Verbraucher beim Kauf von Lebensmitteln auf deren Etikett verlassen darf, wenn er keine spezifischen Kenntnisse mitbringt.[32] Auch kann beispielsweise nicht vorausgesetzt werden, dass der Verbraucher weiß, unter welchen Umständen sich eine SIM-Karte automatisch mit dem Internet verbindet und welche Kosten anfallen.[33] Nach der französischen Rechtsprechung wird insgesamt kein Expertenwissen und auch keine Erfahrungen vorausgesetzt.[34] So bedarf es beispielsweise beim Kauf einer Computersoftware kein Detailwissen über das konkret gelieferte Produkt, sondern das Unternehmen muss die entsprechenden Informationen bereitstellen.[35] Grundsätzlich kann jedoch ein Minimum an Kenntnissen vorausgesetzt werden.[36] Insbesondere wird von der französischen Rechtsprechung ein Bewusstsein für Marktstandards vorausgesetzt.[37] Beim Thema Klimaneutralität zeigt sich die Rechtsprechung des BGH dagegen strenger. Sie verlangt Kenntnis des Verbrauchers darüber, dass Klimaneutralität eines Unternehmens in der Praxis sowohl durch Vermeidung von Emissionen als auch durch Kompensationsmaßnahmen erreicht werden kann.[38] Aus der Angabe eines Klima-Partners eines Unternehmens muss der Verbraucher dagegen nicht auf eine Klimakompensation schließen können.[39]
Sowohl der EuGH als auch die spanische Rechtsprechung gehen im Rahmen der Kreditvergabe davon aus, dass der Verbraucher weiß, was ein Zinssatz ist und dass er bei Krediten erhoben wird.[40] Spezialkenntnisse wie beispielsweise die Umrechnung in Fremdwährungen[41] oder der Mechanismus von Revolving-Kreditkarten[42] wird nicht verlangt.
Sowohl nach der französischen als auch nach der spanischen Rechtsprechung wird der grundsätzliche Wissensstand eines Verbrauchers angenommen, der sich im Alltag auskennt[43], nicht naiv ist und keine unrealistischen Vorstellungen hat[44] und somit dem Vertragspartner gegenüber nicht schlechter steht und ihm nicht ausgeliefert ist[45]. Hervorzuheben ist, dass nach der spanischen Rechtsprechung zwischen einem gerade benannten durchschnittlichen nicht vulnerablen Verbraucher einerseits und einem vulnerablen Verbraucher andererseits unterschieden wird. Zweiterer hat ein schlechteres Vorverständnis durch sprachliche Barrieren, Altersunterschiede oder körperlich und geistige Einschränkungen, sodass andere Maßstäbe für ihn gelten.[46]
4. Rechnen
Im Bereich der Rechenfähigkeit eines Verbrauchers sind entsprechende Anforderungen insbesondere im Bereich des Finanzwesens ersichtlich. So setzt der EuGH voraus, dass der Verbraucher bei der Angabe der Berechnungsmethode eine Risikoprovision selbst berechnen kann.[47] Ebenso verhält es sich bei der Berechnung von Vorfälligkeitsentschädigungen.[48] Dem folgt ebenfalls die französische Rechtsprechung.[49] Um von einem Verbraucher die Berechnung von Kosten verlangen zu können müssten die entsprechenden Informationen, wie die Berechnungsformel, somit grundsätzlich angegeben werden.[50]
Der spanische Tribunal Supremo stellt dagegen höhere Anforderungen und verlangt von dem Verbraucher, dass dieser sich selbst informiert und sich sodann selbst die Berechnungsmethode eines variablen Zinssatzes erschließen kann.[51] Untere Instanzen der spanischen Gerichtsbarkeit lehnen eine Berechnung variabler Zinssätze durch den Verbraucher dagegen ab.[52]
5. Lesen
Besonders im Rahmen des Verständnisses von Produktinformationen spielt die Fähigkeit des Lesens eine wichtige Rolle. Der EuGH setzt in diesem Zusammenhang voraus, dass der Durchschnittsverbraucher Produktinformationen lesen kann und seiner Sprache mächtig ist.[53] Er muss somit eine grammatikalisch richtige Vertragsklausel verstehen können, bei fehlender inhaltlicher Schlüssigkeit muss der Verbraucher jedoch keine weiteren Anstrengungen unternehmen, um ein Verständnis aufzubauen.[54] Dies interpretiert die spanische Rechtsprechung so, dass der Verbraucher Produktinformationen aufmerksam lesen muss[55] und es erforderlich ist, dass er Grundbegriffe versteht[56]. Auch die französische Rechtsprechung stellt darauf ab, dass der Verbraucher ein vorgelegtes Angebot zumindest lesen können muss.[57] Auch der BGH geht von der Lesefähigkeit der Verbraucher aus, differenziert jedoch bezüglich der Gründlichkeit und der Aufmerksamkeit des Lesers. Bei einem Kauf von langlebigen und kostspieligen Gütern befasst sich der Verbraucher nach der Auffassung des BGH eingehen und nicht nur flüchtig mit der Werbung, sodass er auch kleine Hinweise am Ende des Textes erfassen muss.[58] In anderen Bereichen dagegen muss ein Hinweis, der nur bei aufmerksamem gezieltem Studium lesbar ist und von anderen Bezeichnungen farblich und räumlich abgegrenzt ist, für den Verbraucher nicht wahrnehmbar sein.[59] Widerrufsoptionen sind jedoch auch ohne optische Hervorhebung für eine Verbraucher grundsätzlich „klar und verständlich“ gemäß Art. 247 § 6 Abs. 1 EGBGB.[60]
6. Fazit
Der hier dargestellte Vergleich der angelegten Wertungsmaßstäbe an einen durchschnittlichen Verbraucher weist eine grundsätzliche Einheitlichkeit auf. Insbesondere die französische Rechtsprechung steht im Einklang mit den Wertungen des EuGH und folgt dessen Rechtsprechungslinie in allen hier verglichenen Kategorien.
Die Rechtsprechung des BGH erscheint dagegen in manchen Ansätzen fordernder gegenüber dem Verbraucher. Dies wird beispielsweise durch das vorausgesetzte Verständnis der Übersetzung des Begriffs „Cotton“, der Voraussetzung der Nutzung des Internets zum Preisvergleich oder der Kenntnis im Bereich der Klimaneutralität von Unternehmen ersichtlich.
Die spanische Rechtsprechung verläuft wie die französische Rechtsprechung grundsätzlich im Einklang mit der Rechtsprechungsrichtlinie des EuGH. Auffällig ist daher, dass sich das Tribunal Supremo als Oberster Gerichtshof Spaniens in der hier unter „Rechnen“ aufgeführten Rechtsprechung gegen den EuGH stellt.[61] Er weicht in diesem Zusammenhang nicht davon ab, dass es ausreichend ist, wenn der Verbraucher sich eine Berechnungsmethode aus anderen Quellen herleiten kann und verlangt somit nicht die Bereitstellung dieser, wie vom EuGH eigentlich gefordert.[62]
Insgesamt zeigt die Gegenüberstellung der verschiedenen Rechtsprechungen jedoch, dass alle Rechtsprechungslinien zumindest von den grundlegenden kognitiven Fähigkeiten wie lesen, rechnen, verstehen und Alltagskenntnis ausgehen und damit auch bewusst in Kauf genommen wird Personengruppen auszuschließen. Die spanische Rechtsprechung hebt sich hier jedoch vor allem in einem Punkt noch einmal von den anderen ab. In dem sie zwischen einem vulnerablen und einem nicht vulnerablen Verbraucher unterscheidet, erkennt sie dem Verbraucher unterschiedlich ausgeprägt Grundfähigkeiten an und stellt entsprechend angepasste Anforderungen.