Forschungsprojekte
Das Verbot unnötigen Leides im humanitären Völkerrecht
Normerosion, Kontestation und permissive Effekte
Warum hat das humanitärvölkerrechtliche Verbot unnötigen Leides und überflüssiger Verletzungen an Bedeutung verloren? Das Verbot soll Kombattanten vor besonders inhumanen Waffen schützen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert begründete es erste Nicht-Einsatz-Normen (etwa von bestimmten Sprenggeschossen oder von Giftgas), die als Teil des modernen humanitären Völkerrechts entstanden. Heutige Verträge allerdings (etwa zum Verbot von Landminen und Streumunition) basieren auf dem Verbot unterschiedsloser Waffen. Sie sollen daher in erster Linie Zivilisten schützen. Blindmachende Laserwaffen sind die einzige Waffenart, die in den letzten Jahrzehnten aufgrund ihrer potentiellen Auswirkungen auf Kombattanten verboten wurde. Es ist jedoch weiterhin legal, Waffen wie urangehärtete Munition, die im Verdacht steht, das Golfkriegssyndrom mitverursacht zu haben, oder Napalm, das zu grausamen Verbrennungen führt, gegen Kombattanten einzusetzen. Das SIrUS-Projekt des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, das das Prinzip konkretisieren sollte, scheiterte. Ferner deuten erste empirische Untersuchungen an, dass das Verbot unnötigen Leides im humanitären Diskurs nicht mehr als Referenzpunkt dient. Das Projekt konzipiert den Bedeutungsverlust des Prinzips als Normerosion und wendet zu deren Erklärung verschiedene Ansätze aus der Forschung über internationale Normen an. Die empirische Grundlage bilden Daten aus Einzel- und Fokusgruppeninterviews sowie Dokumente aus dem humanitären, dem institutionellen und dem militärischen Diskurs.
Patterns of Acceptance of International Norms
Tipping points and norm cascades?
In their seminal 1998 article in International Organization, Martha Finnemore and Kathryn Sikkink posit that international norms are accepted in a cascade pattern – once a tipping point of norm acceptance, assumed to lie at “one-third of the total states in the system“, is reached, a new dynamic develops: Norm adoption processes accelerate, and transnational norm influence increases, while the need for domestic pressure decreases. The tipping point idea is theoretically appealing – however, it has not been tested empirically yet. Finnemore and Sikkink draw on women’s suffrage and the anti-personnel landmines convention to illustrate their claim, but the data on their cases lack detail, and data on other cases lack completely. Hence, putting the idea to test is the main aim of my project: I am empirically investigating patterns of acceptance of international norms to provide an answer to the questions a) how prevalent the mechanisms suggested by Finnemore and Sikkink actually are in the international system; and b) whether and what other acceptance patterns prevail.
Following specific questions guide the project: Do such tipping points really exist on a regular basis? If yes, are we observing case-specific thresholds – or generalisable patterns? Are these thresholds merely quantitative, i. e. referring merely to the number of norm adherents (“critical mass”) or also qualitative, i. e. referring to particular actors who have to be part of the norm accepting group (“critical states”). Is it easier for norm addressees to resist normative pressures before the cascade sets in – and why? Does the intensity of norm entrepreneurial activities decrease or increase during the cascade – and do they adapt their strategies to different stages of the process? Are the dynamics similar in processes of formal and of discoursive norm affirmation?
To approach these questions, I proceed in three broad steps. The first step is conceptual: Drawing on literature from other disciplines (e. g. economics or communication science) which had been referring to tipping points and cascades before these concepts’ diffused into International Relations, and on Finnemore’s and Sikkink’s initial conceptualisation as well as on the meanwhile sizable body of literature on norm diffusion, I develop synthetized definitions of the main concepts, from which I derive observable implications. The second step is empirical: I compile an original data set of several hundred cases of norm acceptance processes from various policy fields. I analyse these data in a mixed-methods design which relies both on a quantitative large-n analysis to explore longitudinal patterns of norm acceptance, and on qualitative case studies to explore the underlying mechanisms. The third step is theoretical: Based on the empirical observations, I reflect on the project’s initial assumptions and, inductively theorising, formulate new propositions.
Permissive Effekte internationaler Normen
Napalm und die lange Nicht-Entstehung der Norm gegen Streumunition
Erfolgreiche Prozesse der Entstehung und Diffusion von internationalen Normen sind bereits Gegenstand umfangreicher konstruktivistischer Forschung geworden. Hingegen sind Erklärungsversuche für gescheiterte oder gänzlich ausgebliebene Normsetzungsprozesse noch vergleichsweise selten. Mit dem Forschungsprojekt trage ich zur Schließung dieser Lücke bei, indem ich untersuche, weshalb das Verbot von Streumunition erst im Jahr 2008 verabschiedet wurde. Schließlich standen diese Waffen bereits bei den Verhandlungen der Konvention über besondere konventionelle Waffen Ende der 1970er Jahre auf der Agenda; ebenfalls wurde Anfang der 1990er Jahre erwogen, Streumunition zusammen mit Landminen zum Gegenstand einer Verbotskampagne zu machen. Um zu erklären, warum Streubomben zu keinem dieser Zeitpunkte verboten wurden, entwerfe ich zunächst ein theoretisches Erklärungsmodell, welches in Anlehnung an Nina Tannenwald die Nicht-Entstehung bestimmter Normen als Resultat permissiver Effekte anderer Normen konzipiert. Demnach können sich permissive Effekte in drei Dimensionen entfalten: attentional, wenn die besondere Beachtung eines Problems zur Nicht-Beachtung anderer Probleme führt; konstitutiv, wenn die Stigmatisierung einer Praktik zur Akzeptabilität anderer Praktiken führt; und regulativ, wenn das Unterlassen der einen Praktik die Ausführung der anderen ermöglicht. Entsprechend lautet die Leitthese der Studie, dass das Streubombenverbot erst so spät verabschiedet wurde, weil es zuvor zweimal „Opfer“ permissiver Effekte wurde – erst der entstehenden Anti-Napalm-Norm und danach der entstehenden Anti-Landminen-Norm. Diese These überprüfe ich empirisch, indem ich die im Modell enthaltenen Wirkungsmechanismen in Form erwarteter Beobachtungen operationalisiere und prozessanalytisch mithilfe der Inhalts- und Diskursanalyse teste. Das analysierte Material umfasst mehrere Tausend Dokumente (Zeitungsartikel und Wortprotokolle internationaler Verhandlungen) im Untersuchungszeitraum vom 1.1.1945 bis zum 31.5.2008.
Abgeschlossen 2016; das Buch erscheint demnächst bei Springer VS in der Reihe "Studien der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung"
Vereinte Nationen und Global Governance
Tanja Brühl und ich haben in unserem gemeinsam verfassten Lehrbuch den Wandel der Vereinten Nationen von einer rein zwischensstaatlichen Organisation in eine Organisation, die selbstverständlich Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen in die Entscheidungsfindung einbezieht und mit zahlreichen anderen (regionalen) Organisationen kooperiert, analysiert. Wie funktionieren in dieser vielfach und über viele Ebenen verzahnten Struktur Prozesse der Normsetzung, -Umsetzung und -Durchsetzung? Unterscheiden sich die Steuerungsmodi je nach Politikfeld? Und führen unterschiedliche Steuerungsmodi zu unterschiedlichen Ergebnissen?
Das Lehrbuch führt in die Arbeit der UN ein und trägt dem Einzug von Global Governance in die Organisation Rechnung, indem es einen Analyserahmen zur Untersuchung neuer Modi globalen Regierens entwickelt und diesen auf fünf ausgewählte Sachbereiche (Friedenssicherung, Rüstungskontrolle und Abrüstung, Menschenrechtsschutz, Entwicklungspolitik und Umweltpolitik) anwendet.
Abgeschlossen 2014; erschienen in der Reihe "Grundwissen Politik" als: Brühl, Tanja/Rosert, Elvira 2014: Die UNO und Global Governance. Wiesbaden: Springer VS.
Die Transformation der Rüstungskontrolle
Normdynamik und Gerechtigkeitsansprüche in Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung
Unter der Leitung von Harald Müller habe ich im Forschungsprojekt „Die Transformation der Rüstungskontrolle. Normdynamik und Gerechtigkeitsansprüche in Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung“ mitgearbeitet. Mein konzeptioneller Schwerpunkt lag dabei auf dem Zusammenhang zwischen Rüstungskontrollnormen und technologischem Wandel; empirisch habe ich die Entwicklung von alternativen Technologien zu Landminen als Reaktion auf das Verbot von Landminen untersucht.
Abgeschlossen 2013; unser Beitrag im begutachteten Sammelband des Projekts: Elvira Rosert/Una Becker-Jakob/Giorgio Franceschini/Annette Schaper 2013: Arms Control Norms and Technology, in: Müller, Harald/Wunderlich, Carmen (Hg.): Norm Dynamics in Multilateral Arms Control. Athens: University of Georgia Press, 109-140.