Youssef Ibrahim & Simone RödderDGS Ad Hoc185: Klimawandel im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Massenmedien: Zeitsoziologische Perspektiven
17 September 2020
Unsere Ad hoc-Gruppe auf dem Soziologentag freut sich über TeilnehmerInnen! Mit Vorträgen von Anna Henkel, Youssef Ibrahim, David Martin, Simone Rödder und Markus S. Schulz sowie Kommentaren von Anita Engels und Peter Weingart.
Multiple Welten oder »Global We«? Umweltrisiken, kommunikative Risiken und die Rolle der Soziologie
Simone Rödder, Universität Hamburg, Deutschland
Mit Konzepten wie „post-normale“ oder „regulatorische“ Wissenschaft, Trans-Wissenschaft und „futurework“ versucht die Wissenschaftsforschung, das komplexe Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Massenmedien im Klimafall konzeptionell zu durchdringen und empirisch zu erforschen. Wesentlich in dieser Debatte sind auch differenzierungstheoretische Positionen, die die beobachterabhängige Beschreibung des Klimawandels und daraus resultierende kommunikative Risiken in den Blick nehmen. Soziologische Vorstellungen multipler Sinnwelten, deren Beobachtung und Relevanzsetzung je systemspezifisch ist und die in ihrer Gesamtheit die ökologische Resonanzfähigkeit der Gesellschaft ausmachen, grenzen sich dabei insbesondere von mit Konzepten wie „Anthropozän“ oder „große Transformation“ verbundenen Steuerungsoptimismen ab. Letztere, oft populäre Debatten, vernachlässigen aktuell, so die Ausgangsbeobachtung dieser Ad hoc-Gruppe, die Realität kommunikativer Risiken. In diesem einleitenden Vortrag wird motiviert, warum die Soziologie sich neben den daraus resultierenden Sachproblemen vermehrt mit Spannungen zeitlicher Art beschäftigen sollte. Beispielhaft zu nennen sind die Publikations-Deadlines für politikberatende Sachstandberichte oder das massenmediale Interesse am Zusammenhang aktuellen (Extrem-)wettergeschehens mit längerfristigen Klimaschwankungen, das als Event-Attributionsforschung nun auch in der Klimaforschung thematisch wird.
Forschungszeit, Klimazeit und politische Dringlichkeit: Von der Wetterbeeinflussung zur Attributionsforschung
Youssef Ibrahim, Universität Hamburg, Deutschland
Wird wissenschaftliches Wissen als ‚gesellschaftlich relevant‘ markiert, sieht sich die Wissenschaft nicht selten mit Erwartungen insbesondere aus Politik und sozialen Bewegungen konfrontiert, alsbald eindeutige Ergebnisse zu produzieren, auf deren Basis sich politische Entscheidungen legitimieren ließen. Damit ist also eine doppelte Forderung kommuniziert: Die Wissenschaft soll verständliches, konsistentes und konsensual gestütztes sicheres Wissen über gesellschaftliche Problemlagen bereitstellen und zugleich lieber heute als morgen Einsichten liefern.
Der Fokus sozialwissenschaftlicher Debatten um das ‚science-policy interface‘ lag bislang weitgehend auf den Problemen, die aus den Übersetzungsschwierigkeiten und dem Überfluss (Sarewitz) wissenschaftlichen Wissens resultieren. Die temporale ‚Beschaffenheit‘ von Forschungsgegenständen und der daran angepasste Forschungsprozess einerseits und politisch induzierte Dringlichkeit andererseits lassen jedoch vermuten, dass mit der Verknappung von Zeit voraussetzungsreiche Aushandlungsprozesse um Fristen, Priorisierung und Aktualität verbunden sind.
Der Vortrag nähert sich diesen Spannungen am Beispiel der politischen Förderung und wissenschaftlichen Beforschung der sogenannten 'advertent/inadvertent climate and weather modification' in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In einem ersten Schritt fragt der Vortrag nach den Zurechnungen von temporaler ‚Qualität‘ auf Forschungsobjekte (1), um dann mögliche Abhängigkeiten von Forschungszeit und Klimazeit zu diskutieren (2). Auf dieser Grundlage soll die Aushandlung daraus resultierender Probleme zwischen Wissenschaftlern und Politikern anhand ausgewählter Verhandlungsprotokolle illustriert werden. Die Dichotomie von vorübergehendem Wetter und langfristigem Klima wird hier als ein zentrales Problem charakterisiert (3). Schließlich gibt der Vortrag einen Ausblick auf die in jüngster Zeit zu verzeichnende und auf Forderungen reagierende Auflösung der Dualität von Klima und Wetter durch die klimawissenschaftliche Attributionsforschung (4).
Szenarien unter Spannung: Die Zeiten des Klimawandels
Markus S. Schulz, Max Weber Center for Advanced Cultural and Social Studies, Deutschland
Der Vortrag untersucht die Zeitlichkeit von Szenarien des anthropogenen Klimawandels mit besonderer Berücksichtigung empirischer Fälle aus Deutschland und den Vereinigten Staaten. Neben differenzierungstheoretischen Perspektiven werden dabei insbesondere auch die heuristischen Leistungen von Identitäts-, Werte-, Macht- und Konflikttheorien zum Einsatz gebracht. Unterschiedliche gesellschaftliche Akteure, Felder und Arenen beschäftigen sich mit dem Verlauf, den Ursachen, der Vermeidung bzw. Milderung des Klimawandels sowie der Anpassung daran mit unterschiedlichen zeitlichen Rahmen und Logiken. Nach welchen Kriterien und Motiven werden diese ausgewählt, bevorzugt oder abgelehnt? Wie werden sie durchgesetzt, verbreitet oder zurückgehalten? Welche Auswirkungen hat dies auf die Problemwahrnehmung, Lösungsansätze und Visionen von Veränderung? Was trotz der regelmäßigen Kontroversen um Szenarien oft unthematisiert blieb und auch in der Forschung zu wenig Beachtung fand, wirkt sich indes bis auf die konkreten Inhalte aus. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um eine globale ökologische Transformation wie auch einzelne Maßnahmen vor Ort werden geprägt von bestehenden institutionellen und informellen Strukturen, aber auch von der Vorstellungskraft der Beteiligten. Die eingesetzten Annahmen von Zeit können dabei den Horizont der sozialen Gestaltungsmöglichkeiten einschränken oder erweitern. Die analytischen Befunde werden in einem abschließenden Schritt nach den Implikationen untersucht, die sie für die Szenarien-Methodologie wissenschaftlicher Studien und die Demokratisierung antizipativer Politik bergen.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr« Temporalisierte Handlungslogiken am Beispiel von Atom- und Kohleausstieg in der Klimakrise
David Martin, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Deutschland
Gesellschaftlicher Wandel im Angesicht des Klimawandels wird krisenhaft erfahren. Das betrifft Produktions- und ökologische Abnutzungsverhältnisse, wie beispielsweise der Wandel hin zu regenerativer und sparsamerer Produktion und Nutzung von Energie demonstriert. Als Teil der Bewältigung der Klimakrise, verstärkt diese Transformation gesellschaftliche Kontroversen, die sich in unterschiedlichen und sich gegenüberstehenden Temporalisierungen des Wandels und somit unterschiedlichen Handlungslogiken ausdrücken. In Deutschland betrifft das den Kohleausstieg, der stark mit der krisenhaften Vorgeschichte des Atomausstiegs verknüpft ist. Diese ineinandergreifenden Abschaffungskrisen haben Einfluss auf die gesellschaftliche Politisierung der Klimakrise und bieten Chancen und Hemmschuhe des Wandels zugleich. Der Vortrag vergleicht Aspekte solcher Temporalisierungen durch Politik, Medien und Teilen der organisierten Zivilgesellschaft und greift folgende Fragen auf: Wie wird ‚Ausstieg‘ im Angesicht der Klimakrise gedeutet? Welchen Vergangenheits- und Zukunftsbezug haben Temporalisierungen des Ausstiegs und was bedeutet das für die Klimakrise? Wie werden kontroverse Temporalisierungen gesellschaftlicher Vergangenheiten und Zukünfte durch die Klimakrise fragmentiert oder verdichtet? Welche Zeitpolitiken und Strategien spiegeln sich dabei wieder?
Zukunftsbewältigung im Anthropozän
Anna Henkel, Universität Passau, Deutschland
Noch kein Abstract verfügbar
Kommentar 1: Anita Engels (Hamburg)
Kommentar 2: Peter Weingart (Stellenbosch / Bielefeld)