Forschungsansatz
In jüngster Zeit wird unterschiedlichen Formen des Zusammenseins eine erstaunliche Prominenz zuteil, die bisherige Vorstellungen des Kollektiven auf den Prüfstand stellen: Protestbewegungen wie Anonymous entwickeln dezentrale Steuerungsformen im Internet, die sie in den urbanen Raum übertragen; die Occupy-Bewegung besetzt städtische Plätze und organisiert sich gleichzeitig über Social Media; neue Formen der Gastfreundschaft (z.B. Hospitality-Networks) kommen durch Social Media zustande und finden gleichzeitig ihren Ausdruck in klassischen face-to-face Interaktionen; urbaner Raum lässt sich auf Grundlage von digitalen kollektiven Gedächtnissen erfahren (z.B. Clio; Spotted by Locals). Diese Formen des Zusammenseins zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur ‚virtual communities’ sind, sondern dass sie sich gleichzeitig auch im städtischen Raum materialisieren und erfahren werden. Urbane und digitale Räume sind nicht mehr voneinander losgelöst, sondern verschränken sich auf bisher kaum verstandene Weise. So sind digitale Infrastrukturen im urbanen Raum verortet (z.B. Mobilfunkantennen), während dieser sich digitalisiert (z.B. Smart City).
Das Graduiertenkolleg untersucht, wie durch die wechselseitige Strukturierung urbaner und digitaler Räume, ja sogar deren Vermischung, neue hybride Räume entstehen und was diese Verschränkung für die Entstehung von Kollektivität bedeutet. Jede Form des Zusammenseins verfügt über eine räumliche Dimension: Dies gilt für klassische Kollektivitäten wie den Nationalstaat, der über sein Territorium bestimmt wird, wie auch für Kollektivitäten, die in digitalen Räumen entstehen, wie zum Beispiel auf der Internetplattform ‚Second Life’ oder in anderen anonymen Chat- und Spielforen. Meist wurden diese Räume als parallel und weitgehend unabhängig voneinander verstanden, was auch dazu geführt hat, dass sich unterschiedliche Disziplinen mit ihnen jeweils einzeln beschäftigt haben: Die Sozialwissenschaften z.B. mit Territorien oder mit städtischen Plätzen, die Medienwissenschaften mit dem ‚cyberspace’ oder mit virtuellen Räumen. In den letzten Jahren zeichnet sich jedoch ab, dass die saubere Trennung dieser Räume immer schwerer fällt: Digital organisiertes Zusammensein beschränkt sich keineswegs nur auf den digitalen Raum, sondern findet in öffentlichen Versammlungen im städtischen Raum neue Ausdrucksformen (z.B. Anonymous-Proteste). Gleichzeitig wird auch der städtische Raum insbesondere durch ortsbasierte Medien und die Allgegenwart von Smartphones digitalisiert. Dadurch werden spontane Organisationsformen möglich, die nicht zuletzt auch Fremde zusammenführen (man denke hier an die Organisation von dezentralen Protesten, aber auch die Schaffung von Mikrokollektiven wie z.B. Gastgemeinschaften durch Couchsurfing): Man findet gleichzeitig im Netz und vor Ort zusammen. Genau dies ist mit der wechselseitigen Durchdringung von urbanen und digitalen Räumen gemeint. Auf diese Weise hat sich, so unsere Annahme, die Voraussetzung für die Entstehung unterschiedlichster Formen von Kollektivität verändert. Damit formulieren wir keine raumoder gar eine technikdeterministische Annahme. Räume, seien diese urbaner oder digitaler Natur, sind nicht einfach gegeben, sondern werden angeeignet und damit auch sozial mitproduziert. Es ist also gerade diese Wechselbeziehung zwischen urban/digitalen Räumen und der Herausbildung von Kollektivität, mit der wir uns beschäftigen möchten.
Unter Kollektivität verstehen wir unterschiedliche Formen des Versammelns und Verbindens heterogener – sozialer und nicht-sozialer, menschlicher und nicht-menschlicher – Elemente, die sich selbst als handlungsfähige Einheit erfahren oder von außen als handlungsfähig beschrieben werden (im Anschluss an Latour 2010; Kneer/Schroer/Schüttpelz 2008 und an Assemblagetheorien: De Landa 2011; Bennett 2010). Ihre Zielgerichtetheit unterscheidet sie von einem bloßen Passantenstrom. Diese Gerichtetheit kann ihren Ausdruck in Selbstbeschreibungen finden, sie kann aber auch latent in der Erfahrung von Zusammengehörigkeit und in der wechselseitigen Affektion von Körpern begründet sein. Im Rückgriff auf William James ist Erfahrung nicht psychologisch als ‚subjektives Erlebnis’ zu verstehen, sondern situiert sich noch vor der Trennung von Subjekt und Objekt: Sie entsteht in den sozialen Relationen selbst (Stoller et al. 2005; Latour 2013). Erfahrung wird nicht als passive, sensualistische Operation konzipiert, sondern als das, was im Rahmen einer wechselseitigen Interaktivität Wirklichkeit konstituiert (Rammert 1999). Die Zielgerichtetheit von Kollektivität, die durch die gemeinsame Erfahrung zustande kommen kann, ist damit noch nicht automatisch als politisch zu verstehen. Es bleibt vielmehr zu untersuchen, ob und wie jene erfahrungsbasierte Handlungsfähigkeit politisch wird und ob sich in den uns interessierenden urbanen und digitalen Kollektivitäten sogar neue Formen des Politischen abzeichnen. Politisch werden sie dadurch, dass sie ihre Forderungen oder auch nur ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation an ein Publikum adressieren.
Wir vermuten – und diese Annahme ist in empirischen Projekten zu überprüfen –, dass gerade die Verschränkung urbaner und digitaler Räume das Zusammenhandeln unter Fremden (‚lose Verbindungen’) und neue Formen von Handlungsfähigkeit ermöglicht. Das Kolleg untersucht Typen der Kollektivität, die nicht auf gut und seit langem etablierte Netzwerkverbindungen zurückgreifen können. Stattdessen geht es um die Frage, wie sich lose verbundene, heterogene Elemente zu einer wirkmächtigen Einheit zusammenfügen. Diese Kollektivitäten sind nicht in einer ihre Einheit begründenden gemeinsamen Ideologie verankert – auch wenn sich solche Ideologien herausbilden mögen –, und sie verfügen auch über kein präexistentes gemeinsames Interesse. Im Gegensatz zu klassischen Netzwerkkonzeptionen interessieren hier weniger die Knotenpunkte als die in Bewegung befindlichen Verbindungen und ihre medientechnischen und urbanen Bedingungen (Thacker 2009). Die hier fokussierten Kollektivitäten bilden sich kurzfristig zu bestimmten Gelegenheiten und mögen sich genauso schnell, wie sie entstanden sind, wieder auflösen. Sie beruhen damit weder auf lang erprobten ‚festen Verbindungen’ (wie z.B. Klassen- oder Genderidentitäten) noch auf fixierten Interessen oder einer gemeinsamen Geschichte. Wie aber bringen die Kollektivitäten trotz dieser erschwerten Bedingungen – möglicherweise sogar neue Formen – der Verbundenheit und Handlungsfähigkeit hervor?
Diese Kollektivitäten sind nicht einfach als defizitäre Identitätsform zu verstehen (so wurde der Occupy-Bewegung vorgeworfen, keine einheitliche Selbstbeschreibung zu produzieren), sondern in ihrer eigenen Positivität zu analysieren – sowohl auf empirischer wie auf theoretischer Ebene. Das Kolleg möchte diese Formen von Kollektivität in einer vergleichenden Perspektive in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Feldern untersuchen. Systematisch interessieren uns vier Aspekte, die auch die Module des Kollegs bilden sollen: Urban/digitale Räume der Kollektivität (Modul 1), die Erfahrung und Bewegungsordnung von Kollektivität (Modul 2), Taktiken und Strategien der Kollektivität (Modul 3) und Genealogie und Theorien der Kollektivität (Modul 4). Das Kolleg entwirft eine interdisziplinäre Perspektive, die u.a. soziologische, medien- und kulturwissenschaftliche und urbanistische Positionen aufeinander bezieht.
Das Kolleg kann in besonderer Weise von seiner Situierung in der Metropolregion Hamburg profitieren, da viele der uns interessierenden Phänomene direkt vor Ort zu beobachten sind: von unterschiedlichen Formen politischen Protests, solidarischen Schwärmens (z.B. Unterstützungsnetzwerke der Lampedusa-Flüchtlinge), von neuen Gast- und Sorgekollektiven unter Fremden bis hin zu ihrer künstlerischen Reflexion z.B. in tänzerischen Performances, die sich am Schwarmdenken orientieren. Hamburg als Medienstadt ist sowohl im Bereich der klassischen Massenmedien, als auch bei den Social Media (z.B. die Europazentrale des Gastfreundschaftsnetzwerk Airbnb) und der Digitalisierung der Stadt (z.B. Smart Port) ein besonders vielversprechender Ort für die Analyse von Kollektivität auf Grundlage ‚loser Verbindungen’. Auf der wissenschaftlichen Ebene vernetzt das Graduiertenkolleg die Universität Hamburg (Soziologie; Medienwissenschaften; Performance Studies), die Hafencity Universität (Kulturanthropologie/Stadtsoziologie), die Helmut Schmidt Universität (Mikrosoziologie), das Hamburger Institut für Sozialforschung (politische und historische Soziologie) sowie die Universität Lüneburg (Medienwissenschaft).